Berlin und Nichtberlin

Schulze-Delitzsch-Denkmal

Der U‑Bahnhof Märki­sches Museum ist zur Zeit mein liebs­ter U‑Bahnhof. Ich komme mitten in der Stadt aus dem Unter­grund hervor, die Fahne des DGB flat­tert fröh­lich, das Rote Rathaus lächelt nahe, es gibt keinen Zwei­fel: ich bin in Berlin, aber ich kann auch denken: ich bin ganz woan­ders. Hier ist Berlin auch Nicht­ber­lin. Die Misch­was­ser­ka­näle werden erneu­ert. Der 265er kommt kaum um die Ecke, er fährt mir fast über die Füße, aber vorsich­tig und lang­sam; ande­ren auf die Füße treten, aber vorsich­tig und lang­sam — das ist ganz unber­li­ne­risch.

Die Insel­straße südwärts Die Wörter erfri­schen das Herz: Insel, Süden. “Achtung”, heißt es in einem nahen Schau­fens­ter. “Die Bestat­tun­gen werden ab dem 01.5.1996 nur auf Wunsch durch Haus­be­such ohne Mehr­kos­ten durch­ge­führt”. Bestat­tun­gen durch Besuch — ein nach­den­kens­wer­tes Modell. Unweit von diesem Achtung gebie­ten­den Bestat­tungs­ge­schäft steht das Haus Köpe­ni­cker Straße Ecke Wasser­gasse. Wenn ich dort über der Kneipe “Zum Fern­fah­rer” wohnte, gewönne ich einen Rück­blick auf Messels AOK-Haus am Köll­ni­schen Park und in die Vergan­gen­heit der SED-Partei­schule.

Ich bin auf dem Schulze-Delitzsch-Platz ange­kom­men, der nur mit Mühe ein Platz ist, ein klei­nes Garten­grün­stück zwischen Köpe­ni­cker und Neuer Jakobstraße. Über drei jungen kana­di­schen Ahorn­bäum­chen steht dort auf seinem Sockel der Kollege Schulze-Delitzsch. Als dieses Denk­mal zum ersten Mal aufge­stellt wurde, im August 1899, als Schulze 91 Jahre alt gewor­den wäre, räson­nierte der christ­li­che Berufs­an­ti­se­mit Ernst Böhme in Hofpre­di­ger Stöckers Hetz­blatt “Volk” über die von nieman­dem gestellte Frage, warum Schulze-Delitzsch ein Denk­mal erhielt, aber Viktor Aimé Huber nicht. Die Antwort war: Weil Huber zwar eben­falls ein Sozi­al­re­for­mer, aber außer­dem ein Konser­va­ti­ver war. Das ist ein altes, aber immer noch gebräuch­li­ches jour­na­lis­ti­sches Muster, mit dem gewisse Konser­va­tive — während ihres­glei­chen doch die Welt beherr­schen — sich als Opfer darstel­len, weil es immer­hin noch Wider­spruch gibt. Trotz­dem: Über Huber lohnt es sich zu reden; er war Therese Hubers Sohn, der ersten deut­schen Jour­na­lis­tin, die wegen eines säch­si­schen Huber Georg Fors­ter verlas­sen hatte, der die Welt liebte, die Demo­kra­tie und die deut­sche Spra­che wie kein ande­rer. Aber niemand redet mehr über Viktor Huber. Selbst Schulze-Delitzsch ist längst kein Mann des allge­mei­nen Bewusst­seins mehr. Er ist hier­her auf seinen Denk­mals­so­ckel wieder­ge­kom­men auf Kosten der Köpe­ni­cker Bank. (Denn er war der Begrün­der der Volks­ban­ken. Jede Form der Staats­hilfe lehnte er ab. Er traute dem auf die Dauer nichts Sozia­les zu.) das sozia­lis­ti­sche Berlin hat das Denk­mal (deshalb?) veschwin­den lassen, hatte aber statt­des­sen auch Lass­alle kein Denk­mal gesetzt.

Der Schulze-Delitzsch, der nun gegen­über dem hübschen Luisen­hof steht, schaut die Neue Jakobstraße hinun­ter, als ob er am Ende der Neuen Jakobstraße Max Tauts ADGB-Haus sehen könnte, und lässt seine rechte Hand abwärts zeigend in einer resi­gnie­ren­den Bewe­gung verhar­ren (um nicht nur das Schick­sal der Erwerbs- und Wirt­schafts-Genos­sen­schaf­ten, sondern auch das der Gewerk­schaf­ten über­haupt zu signa­li­sie­ren?). Ein düste­rer Gedanke entsteht in mir und will den leich­ten Früh­som­mer­tag bedrü­cken. Da trös­ten die Spray­in­schrif­ten im Haus­ein­gang gegen­über: “Ihr seid Deut­sche, wir sind Menschen!”, “Hilf deinem Staat, verstümmle dich selbst!”, “Wohn­raum darf keine Ware sein!”, dazu viele Liebes­er­klä­run­gen: an Vincent, Robert, Sven, Jimmy, Nihad und Timmy. Es steht aber in verblas­sen­der Schrift auch da: “DT 64 — Die Stimme der Jugend”. Der Name des Programms wirkt wie ein Sigel einer fernen Zeit, ähnlich wie gegen­über am verfal­len­den Haus Neue Jakobstraße Nr. 4 die kafka­eske Firmen- oder soll man lieber sagen Behör­den-Bezeich­nung: “VEB Spezi­al­kom­bi­nat Wasser­bau (KB Baugrund Berlin)”; für das schöne Haus hatten diese Baugrund-Spezia­lis­ten nichts tun können. Der Kapi­ta­lis­mus ist bisher nur bis Neue Jakobstraße Nr. 5 gekom­men.

Der Ortho­pä­die-Schuh­ma­cher­meis­ter in dem schön restau­rier­ten Gewer­be­hof mit frischem Grün an den Fens­ter­kämp­fern heißt tatsäch­lich Jakob Böhme — wie sein berühm­ter Kollege, der Schuh­ma­cher­meis­ter aus Görlitz, der erste deutsch schrei­bende Philo­soph, die “Morgen­röte im Aufgang”; die aktu­elle Ausgabe seiner Schrif­ten umfasst elf Bände, ob sein Namens­vet­ter aus der Jakobstraße gele­gent­lich darin liest? Viel­leicht weiß er etwas vom “Drei­fa­chen Leben des Menschen”, und viel­leicht kann er auch einige der “Vier­zig Fragen von der Seelen” beant­wor­ten. Ich beschleu­nige den Schritt, um mysti­schen Verknüp­fun­gen zu entkom­men.

Baulich bietet die Annen­straße ja nichts. In den Werk­bü­chern der Zeit­geist-Archi­tek­ten kommt sie nicht vor (obwohl das Bauhaus viel­leicht an ihr schuld ist, aber viel­leicht auch nur die Armut der DDR), jetzt im frühen Sommer wirkt sie durch den Charme ihres gewöhn­li­chen Alltags. Die grüne Vorgar­ten­wiese gibt diesem Innen­stadt­stand­ort etwas behag­lich Klein­städ­ti­sches. Als ich schon denke: in der Annen­straße sieht Berlin aus wie Senne­stadt Salz­git­ter, Bad Oldes­loe, lese ich am großen grünen Müll­con­tai­ner: “Ist das die Urne der Kommune 4?” In Bad Oldes­loe fragt niemand nach dem Schick­sal der Kommune.

Es ist also passend, dass der Ausgang aus der Annen­straße auf die Hein­rich-Heine-Straße führt. Die hohen Häuser hier sehen aus wie gigan­ti­sche Bauzäune. Dem Durch­fah­ren­den legen sie die Frage nahe: Was ist dahin­ter? Und die Antwort ist: Die Leere. Die Leere, die die Gegen­wart östlich und west­lich der Mauer so ange­nehm verschla­fen erschei­nen ließ, solange die Mauer stand. Wenn man sich daran gewöhnt hat, das Wort “modern” ganz wert­frei zu gebrau­chen, ist die Hein­rich-Heine-Straße eine moderne Straße, ich kann sie in ihrer städ­te­bau­li­chen Bedeu­tung gut auf den Namens­ge­ber bezie­hen, so dass ich mich freue, dass die West­ber­li­ner Kommis­sion, die zur Zeit die verdäch­ti­gen Stra­ßen umbe­nennt, an Hein­rich Heine nichts Staats­feind­li­ches findet. Liest man am Fehr­bel­li­ner Platz viel­leicht Heine gar nicht?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Andreas Stein­hoff, Wiki­me­dia Commons

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