Ein paar Stunden am Potsdamer Platz

Hier brüllt am Tage fiebern­des Leben. Man hat das Empfin­den, als werde ein Riesen­feu­er­werk abge­brannt, als schös­sen Brüll­ra­ke­ten empor, zerplatz­ten an den Dächern der Häuser und über­schüt­te­ten die ganze Stadt mit einer Flut von Geräu­schen, die den Rädern der Trams, Autos und Last­fuhr­werke entsprun­gen ist.

Wild stür­zen die Autos heran. Knat­ternd schnel­len sie über den Asphalt, zischend verhal­tend, wenn ein in der Mitte des Plat­zes stehen­der Poli­zist den Arm hebt. Die Wach­män­ner haben einen anstren­gen­den Dienst. Sie stehen im strö­men­den Regen, in bitte­rer Kälte, in der Hitze­welle des Sommers. Sie stehen auf einer Insel, die umrauscht wird vom klir­ren­den Lärm des Tages, wie ein Boll­werk, an dem die Fluten zerschel­len. Eine Armbe­we­gung, ein Pfiff auf der Flöte — Autos schnel­len heran. Drosch­ken schwan­ken los, zischend fegt die Stra­ßen­bahn die Schie­nen entlang. Und es über­kommt einen ein beru­hi­gen­des Gefühl.
Man kann sicher und unge­fähr­det den Stra­ßen­damm über­que­ren.
Man quetscht sich durch die Fahr­zeuge, die wie bebende Tiere warten, dass das Signal zum Start gege­ben werde.
Und es schreien die Zeitungs­ver­käu­fer.
Obst­händ­ler locken die Vorüber­ge­hen­den an.
Stie­fel­put­zer prei­sen ihre saubere Arbeit.

Von Blüten ganz umhüllt stehen die Blumen­frauen. Dicke, kräf­tige Perso­nen, die schon seit Jahren hier ihre Sträuße feil­bie­ten. Nicht sonder­lich zuvor­kom­mend gegen Käufer, die sie nach der Klei­dung taxie­ren.
Da kommt ein elegan­ter junger Mann, der zum Bahn­hof will, um die Hand seiner in Berlin eintref­fen­den Freun­din zu küssen. Er erhält ein sehr schö­nes, dufti­ges Bukett.
Eine ältere Dame, salopp ange­zo­gen, ein winzi­ges Hütchen auf dem geschei­tel­ten Haar, geht von Blumen­frau zu Blumen­frau. Sie riecht an den Blüten herum. Aber die Sträuße sind ihr zu teuer. Schieß­lich wird sie von einer dicken Verkäu­fe­rin ange­faucht, dass ihr das Hütchen ins Genick rutscht. “Wat denken Se sich denn? Meen Se, ick ­steh hier rum, um Ihre Jeruchs­sinn zu kitzeln. Wenn Ihn’n de Blum’n zu deuer sind, reißn Se sich doch’n Bindel Jras aus!”
Die alte Dame hüpft, sicht­lich konster­niert, zornige Worte murmelnd, über den Damm und gerät beinahe unter die Elek­tri­sche.

Auf den Terras­sen der Cafés sitzen gut geklei­dete Menschen und schlür­fen Eisge­tränke.
Damen, die in der Stadt Einkäufe gemacht und sich mit ihren Freun­din­nen auf ein Plau­der­stünd­chen nieder­ge­las­sen haben, Herren, die Geld genug besit­zen, um inter­es­siert das Stra­ßen­bild zu beob­ach­ten.
Aber auch Geschäfts­leute. Sie rech­nen ihre Prozente aus, unter­hal­ten sich über Börsen­ge­schäfte.

In einer Ecke des Josty­schen Vorgar­tens sitzt ein junges Paar. Sie hat eine helle Bluse an, ihr schön geform­tes Bein ist von Seide einge­hüllt. Er spricht lachend zu ihr. Und wenn sie die Tassen heben, begeg­nen sich ihre Blicke und weilen, lange aufein­an­der. Dann berüh­ren sich scheu ihre Hände, wie unab­sicht­lich. Zwei Groß­stadt­kin­der, die Ferien haben; aber aus diesen Stein­mau­ern nicht ausbre­chen können, weil ihnen das “Geld für eine Sommer­reise fehlt”. Nun tref­fen sie sich sicher­lich jeden Tag, machen Spazier­gänge in den Park­an­la­gen. Und auch der Lärm des Tages kann ihr junges Glück nicht zerpflü­cken.

Den ganzen Tag über ergießt sich eine gewal­tige Men­schenwoge über den Platz. Es hat sogar einmal einen Statis­ti­ker gege­ben, der fest­ge­stellt hat, wieviel Menschen den Platz inner­halb vier­und­zwan­zig Stun­den über­que­ren. Ich habe die Zahl verges­sen. Sie ist auch unwe­sent­lich. Wesent­lich für mich sind die Typen, die über den Platz schrei­ten. Der Bumm­ler, der Geschäfts­mann, die “große” Kokotte, das Tipp­fräu­lein, der Schie­ber, der Arbei­ter. Und in jedes Menschen Gesicht steht eine Geschichte. Nieder­geschlagen, mürrisch die einen, lebens­lus­tig die andern.

Zwei kleine Gymna­si­as­ten pfei­fen und studie­ren die Litfass­säule, an, der das Bild des Sekt­fa­bri­kan­ten, Prophe­ten, Exhi­bi­tio­nis­ten Haeus­ser prangt. Dieses Menschen, der den Dada­is­mus nichts­ver­daut hat. “Mensch, hat der’n Saug­kohl. Der braucht keene Bade­hose, wenna sich auszieht.” Und sie stoßen sich an und beneh­men sich über­haupt sehr unma­nier­lich gegen den “Monar­chen Ich”.
An der Normal­uhr steht ein Herr schon seit einer halben Stunde. Er hat ein Sträuß­chen in der Hand und trip­pelt unge­dul­dig hin und her. Er zieht die Uhr, obgleich über seinem Haupte das große Ziffern­blatt in der Sonne blin­zelt. Er geht bis zur Ecke der Leip­zi­ger. Reckt sich den Hals aus. Schließ­lich winkt er fröh­lich mit dem Hut. Da kommt sie, gerten­haft schlank, über den Damm, das Gesicht ge­rötet. Und sie drückt ihm recht herz­lich die Hand und bittet um Entschul­di­gung, weil sie sich verspä­tet hat. Sie habe soviel zu tun gehabt. Er weiß ja nicht, dass sie sich ein neues Band um den Hut gelegt hat, um sich für ihn zu schmü­cken. (Männer sehen ja über so etwas hinweg!) Und dann fassen sie sich unter und gehen plau­dernd die Belle­vue­straße hinauf, in den Tier­gar­ten, wo Schritte gedämpft auf allen Wegen klin­gen, wo die Blät­ter so leuch­ten.
Die Schat­ten des Abends ersti­cken die, Geräu­sche der Groß­stadt. Der Sturm flaut ab. Die Geschäfts­fuhr­werke sind längst aus dem Stra­ßen­bilde verschwun­den.

Eine Licht­re­klame blitzt auf. Die Café­häu­ser blicken mit hellen Augen auf die Straße.
Immer weni­ger über­que­ren den Platz. Noch einmal braust das Leben auf. Ein Fern­zug ist einge­lau­fen. Sonnen­ver­brannte, Menschen sind ihm entstie­gen. Sie blicken mit glän­zen­den Augen um sich. Sie riechen wieder die Groß­stadtluft, dieses Gemisch von Benzin, Ruß, Parfüm. Alles ist ihnen wieder wie neu. Und sie geste­hen sich ein, dass sie mitten in fried­li­cher Waldes­stille, in würzi­ger Luft doch Sehn­sucht hatten nach dem Stein­meer, nach dem Getriebe und Gehaste der Groß­stadt.
Es wird dunk­ler. Die Lokale schlie­ßen ihre Pfor­ten. Noch einmal entstei­gen dem Bauche der Groß­stadt Menschen. Die letzte Unter­grund­bahn ist einge­trof­fen. Der Bahn­be­amte kommt herauf, schließt die Gitter­tür und fegt die Stein­trep­pen ab.

Und jetzt knistert’s in allen Ecken. Auf der stei­ner­nen Umfrie­dung des Hohé-Kasi­nos lassen sich die Nacht­fal­ter nieder. Zeitungs­ver­käu­fer sitzen einträch­tig nebeneinan­der. Mädchen kommen und liefern Geld ab. Und es werden hier Gesprä­che gehal­ten, die nur ein Einge­weih­ter versteht (Gesprä­che, die sich um “Bullen”, “Stub­ben”, “Gano­ven”, “Effchen” drehen …). Neben mir sitzt eine Prosti­tu­ierte und erzählt stolz, dass sie heute früh “voll wie eine ka­tholische Kirche” nach dem Alex zur Unter­su­chung ge­gangen sei. Während des Vortra­ges, den der Arzt gehal­ten, habe sie so laut geschnarcht, dass sie von Kolle­gin­nen geweckt worden sei. Neulich habe sie erst wieder drei Tage abge­ris­sen. Sie erzählt das alles mit der Ruhmre­dig­keit einer Menschen­kaste, die sich außer­halb der Gesetze stehend fühlt und deren Stolz es ist, im Kampf gegen die gesell­schaft­li­che Ordnung Püffe und Wunden davon­zu­tra­gen: fliese Wunden werden entblößt und wie eine Auszeich­nung zur Schau getra­gen. Zum Schluss klet­tere ich in den Warte­raum des Pots­damer Bahn­ho­fes, wo junge Burschen die “goldene Sechse” spie­len. Und trinke einen schlech­ten, aber teuren Likör.

Und finde, dass es nach­ge­rade Zeit gewor­den ist, nach Hause zu pilgern.

Hardy Worm, 1922

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