Cauerstraße

Wer von Moabit aus kommend über die Helm­holtz­straße südwärts Rich­tung Leib­niz­straße muss, durch­fährt dabei die Cauer­straße. Zwischen dem Ende des Land­wehr­ka­nals und der Otto-Suhr-Allee gele­gen erin­nert der Stra­ßen­name an Ludwig Cauer, der heute prak­tisch unbe­kannt ist. Seine große Zeit war im frühen 19. Jahr­hun­dert und genau dieser Ort hat damit zu tun. An der West­seite der Straße steht ein großes Schul­ge­bäude, breit, düster und abwei­send – das Eingangs­por­tal zur Straße hin ist immer verschlos­sen, im Bewusst­sein der Schüler*innen ist dies nur die Rück­seite des Komple­xes.

Das war mal anders. Die Geschichte beginnt vor rund 200 Jahren und sie war für die dama­lige Zeit etwas sehr Beson­de­res. Zwölf Studen­ten des Philo­so­phen und Pädago­gen Johann Gott­lieb Fichte beschlos­sen, eine eigene Schule zu grün­den, die nicht auf die „preu­ßi­schen Tugen­den“ wie Gehor­sam und Gott­gläu­big­keit setzte und auf der es keine Prügel­stra­fen mehr geben sollte. Heute würde man das wohl Reform­päd­ago­gik nennen, damals war es aber ein Skan­dal.

Tatsäch­lich wurden den eins­ti­gen Studen­ten dann auch zahl­rei­che Steine in den Weg, als sie 1818 die „Cauer­sche Erzie­hungs­an­stalt“ grün­de­ten. Voraus­ge­gan­gen waren lange Verhand­lun­gen mit dem Innen­mi­nis­ter Frei­herr von Schuck­mann, der die Ideen der jungen Pädago­gen rund­weg ablehnte. Diese haben sie am Anfang noch in staat­li­chen Schu­len umset­zen wollen, sind aber in den Gesprä­chen geschei­tert. So öffne­ten sie zunächst eine kleine Schule im Berli­ner Scheu­nen­vier­tel, Münz­straße 21. Hier wurde nicht nur Wert darauf gelegt, dass die Schü­ler (es wurden nur Jungs aufge­nom­men) einer­seits prak­ti­sche Hand­werks-Fähig­kei­ten erwar­ben, auch Fächer wie Altgrie­chisch und Latein wurden gelehrt. Sie soll­ten für fast alle Berufe vorbe­rei­tet werden. Bei der Aufnahme soll­ten die Kinder möglichst erst 5 oder 6 Jahre alt sein, um sie besser formen zu können. Nicht umsonst nannte sich die Schule eine Erzie­hungs­an­stalt.

Von Anfang an muss­ten die Schü­ler auch dort wohnen, nur einen halben Tag in der Woche durf­ten sie zu ihrer Fami­lie. Der Unter­richt war sehr indi­vi­dua­li­siert, die Lehrer hatten jeweils nur etwa fünf Schü­ler zu betreuen, mit denen sie dort auch in einem Zimmer zusam­men­wohn­ten. Manche unter­rich­te­ten sogar nur ein, zwei oder drei Jungen. Jeder Schü­ler hatte so einen ande­ren Wissens­stand. Alle paar Monate wurden die Grup­pen neu gemischt. Es gab keine Klas­sen, sondern nur drei Alters­ka­te­go­rien.

Sehr viel Wert wurde darauf gelegt, dass sich die Schü­ler den Stoff selbst erar­bei­te­ten. Eine Zusam­men­ar­beit unter­ein­an­der gab es kaum, um das indi­vi­du­elle Lösen der Aufga­ben zu fördern. Auch sonst war das Leben in der „Anstalt“ für die Schü­ler recht hart. Von 8 bis 12 Uhr Unter­richt, dann Sport, gemein­same Arbei­ten und noch­mal Unter­richt von 15 bis 20 Uhr.

Da es keine finan­zi­elle Unter­stüt­zung vom Staat gab, war das Schul­geld wesent­lich höher als bei ande­ren Privat­schu­len. Gleich­zei­tig aber soll­ten Arbei­ter- und Bauern­kin­der nicht ausge­schlos­sen sein, sie wurden kosten­los aufge­nom­men.

Schon nach fünf Jahren war klar, dass das Haus in der Münz­straße zu klein ist und so kaufte Ludwig Cauer ein Grund­stück mit Gebäude in der heuti­gen Otto-Suhr-Allee. Dort wurde nun auch ein großer Teil der Lebens­mit­tel selbst ange­baut und es gab eigene Werk­stät­ten.

Obwohl Cauer und die ande­ren sehr viel Geld aus dem eige­nen Vermö­gen in das Projekt steck­ten und sie auch promi­nente Unter­stüt­zer hatten (z.B. Johann Hein­rich Pesta­lozzi), war die Schule die ganze Zeit über in finan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten. Anfang der 1830er Jahre riss die Cholera-Epede­mie große Lücken in die Schü­ler­schaft, so dass Cauer 1834 aufgab. Mitt­ler­weile aber hatte sich die Schule einen guten Ruf erwor­ben, so dass die Stadt Char­lot­ten­burg sie über­nahm. Ludwig Cauer starb während einer Sitzung mit der städ­ti­schen Schul­kom­mis­sion an einem Herz­an­fall. Alle ande­ren Mitbe­grün­der waren da bereits ausge­schie­den.

Natür­lich wurden die pädago­gi­schen Grund­sätze in der Folge Schritt für Schritt abge­schafft. Die Schule wurde zur zentra­len höhe­ren Lehr­an­stalt für Char­lot­ten­burg, was sie noch bis 1869 blieb. 1876 erhielt sie den Namen „Kaise­rin-Augusta-Gymna­sium“, was deut­lich macht, wie weit sich die Schul­lei­tung dem Herr­scher­haus ange­nä­hert hatte. Reform­päd­ago­gi­sche Ideen wie von Fichte oder Pesta­lozzi gab es da schon längst nicht mehr.

Das heutige Schul­ge­bäude wurde auf dem Grund­stück 1899 errich­tet, heute wird es von einer Grund­schule genutzt. An Ludwig Cauer erin­nert noch der Name der Schule sowie der Straße, an der sie steht.

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