Mein Leben als Stricher

Ich bin als Jugend­li­cher recht früh von zuhause ausge­zo­gen. Damals stand noch die Mauer und es war ohne Perso­nal­aus­weis nicht einfach, West-Berlin in Rich­tung Bundes­re­pu­blik zu verlas­sen. Man konnte höchs­tens den Ausweis eines Freun­des nutzen, wenn man ihm eini­ger­ma­ßen ähnlich sah. Auf diese Art kam ich mit den Papie­ren meines Kumpels Ralf durch die DDR-Grenz­kon­trol­len. Jugend­li­che wurden offen­bar nicht so streng kontrol­liert.

Es verschlug mich nach Hamburg, wo ich mich im Schan­zen­vier­tel wieder­fand und schnell Anschluss an andere Treber fand. Diesen Begriff kennt man heute kaum noch, damals aber war er weit verbrei­tet. Viel­leicht, weil es so viele Treber gab, also Jugend­li­che und ältere Kinder, die aus dem Eltern­haus oder einem Heim abge­hauen sind und nun auf Trebe waren. Man ging in eine andere Stadt, wo einen niemand kannte. Zu groß war ja die Gefahr, von Bekann­ten der Eltern entdeckt und verra­ten zu werden.

West-Berlin war in dieser Hinsicht zwar siche­rer, aber letzt­lich gab es doch nur wenige Orte, an denen sich Treber trafen und deshalb leicht aufzu­spü­ren waren. Also Hamburg.
Mitte der 1970er Jahre, traf man sich im Drei­eck zwischen Haupt­bahn­hof, Schan­zen­vier­tel und Altona. Vermut­lich ist das heute noch so.

Meine erste Nacht verbrachte ich zu Füßen des Bismarck-Denk­mals, der Eiserne Kanz­ler wachte über mich. Aber nicht beson­ders gut, am frühen Morgen kontrol­lierte mich die Poli­zei. Da ich auch dort den falschen Ausweis zeigte und mein Berli­ner Kumpel nicht zur Fahn­dung ausge­schrie­ben war, ließen sie mich wieder laufen.

Inner­halb weni­ger Tage kannte ich genü­gend Leute, um auch in Wohnun­gen unter­zu­kom­men. Jeden Abend in einer ande­rer, manche von denen stan­den eigent­lich leer. Sie dien­ten uns als Notschlaf­platz, bis die Nach­barn das mitkrieg­ten und mal wieder die Poli­zei auf der Matte stand.

Ich hatte mehr­mals Glück und war schon aus dem Haus, wenn sie anka­men. Tags­über musste ich sehen, wie es weiter­geht. So landete ich am Haupt­bahn­hof, wo ich versuchte, mir Lebens­mit­tel zu klauen. Geld hatte ich längst keines mehr. Als ich aus einem der Läden heraus kam, sprach mich ein Mann an, ich sollte doch mal meine Taschen öffnen. Abhauen ging nicht und so nahm er mich mit in sein Büro. Der Haus­de­tek­tiv des Geschäfts fischte Scho­ko­lade und Cola aus meinen Taschen und drohte mir mit einer Straf­an­zeige. Plötz­lich wurde er sehr freund­lich. Er kam immer näher und bot mir an, die Sache anders zu regeln. Dabei legte er seinen Arm um meine Schul­ter und strei­chelte mir über den Ober­schen­kel, immer weiter nach oben. Aus Angst vor der Poli­zei ließ ich ihn gewäh­ren, wobei ich es nicht mal unan­ge­nehm fand. Aber sehr unge­wohnt. Er war recht schnell fertig und dann durfte ich gehen. Cola und Scho­ko­lade gab er mir wieder.

Es war das erste Mal, dass ich mit einem Mann sowas ähnli­ches wie Sex gegen Bezah­lung hatte. Es sollte nicht bei dem einen Mal blei­ben. Am Haupt­bahn­hof, in der Talstraße, am Bahn­hof Altona – bald kannte ich die Orte, an denen man sich einfach nur hinstel­len und warten musste. Anfangs war ich natür­lich noch sehr schüch­tern, manch­mal zierte ich mich sehr. Ich hatte Angst, was die Männer von mir wollen könn­ten, gleich­zei­tig aber war da ein Reiz, der mich immer wieder hin trieb. Ich merkte, dass es mir auch selber gefiel, was sie mit mir mach­ten. Jeden­falls am Anfang. Die ersten Wochen hatte ich Glück, meine Gren­zen wurden respek­tiert. Es blieb beim soften Sex, im Park oder auch mal in der Wohnung eines der Freier. Zwar waren sie fast immer doppelt oder drei­mal so alt wie ich, aber ich genoss die Möglich­kei­ten.

Gleich­zei­tig hatte ich dadurch genü­gend Geld, um mit eini­gen Freun­den eine Wohnung bezah­len zu können. Es war auch ein Stri­cher, ein ande­rer machte Einbrü­che und der Dritte beklaute Touris­ten. Die Wohnung war natür­lich nicht offi­zi­ell gemie­tet, sondern gehörte einem Freier aus München, der sie als Zweit­woh­nung nutzte und an uns vermie­tete. Aber er war so selten da, dass ich ihn niemals getrof­fen habe.

Ausge­rech­net am Heili­gen Abend passierte es dann. Der Mann hatte mich in St. Pauli ange­spro­chen, er war nett, rela­tiv jung und auch noch gutaus­se­hend. Ich ging gerne mit ihm mit. In seiner Wohnung jedoch war es mit der Freund­lich­keit vorbei. Kaum waren wir ausge­zo­gen, fiel er über mich her, zwang mich zu allen mögli­chen Stel­lun­gen und verge­wal­tigte mich. Mein Betteln und Flehen nützte nichts, er nahm sich, was er wollte.

Dieser Abend war für mich trau­ma­tisch. Mir wurde klar, dass dieses Gewerbe nicht nur schnell verdien­tes Geld bedeu­tete, sondern auch eine Gefahr darstellte. Diese Erkennt­nis hatten meine Mitbe­woh­ner längst, sie trös­te­ten mich halb­her­zig, mein­ten aber, das gehöre nun mal dazu. Jahre später habe ich erfah­ren, dass sich einer von ihnen bei einer ähnli­chen Situa­tion ange­steckt und daran gestor­ben war. Es war die Anfangs­zeit von Aids.

Ich konnte dort nicht mehr weiter­ma­chen und bin nach Berlin zurück­ge­gan­gen. Viel­leicht in der Illu­sion, hier könnte mir sowas nicht passie­ren. Immer­hin kannte ich mich ja aus. Von wegen.

Damals gab es schon das Georg-von-Rauch-Haus in Kreuz­berg, ein Treber­haus, aus dem einen die Poli­zei nicht heraus­ho­len durfte. Dort kam ich erst­mal unter. Doch dann ging es weiter wie in Hamburg, nur eben an ande­ren Orten. Vor allem in der Genthi­ner Straße und hinter dem Bahn­hof Zoo, aber auch in bestimm­ten Knei­pen fand man seine Freier. Ich war nun gewarnt und hatte einige Vorsichts­maß­nah­men ergrif­fen. So hatte ich immer eine kleine Flasche Tränen­gas dabei, außer­dem ein Taschen­mes­ser. Ich habe es nie einge­setzt, wer weiß, wie das ausge­gan­gen wäre. Von erfah­re­nen Freun­den lernte ich bestimmte Tritte und Schläge, mit denen ich mich im Notfall zur Wehr setzen konnte. Diese brauchte ich auch ein paar­mal. Vor allem der harte Griff in die Kron­ju­we­len wirkte Wunder. Geld gab es danach natür­lich nicht mehr.

Die Jebens­straße am Bahn­hof Zoo war der bekann­teste und belieb­teste Ort, an dem Stri­cher auf ihre Freier warte­ten. Man kannte sich und es gab eine gewisse Soli­da­ri­tät unter den Jungs. Die war zwar begrenzt, schließ­lich war man ja auch Konkur­rent, aber ab und zu warnte man sich gegen­sei­tig vor bestimm­ten Kunden. Manche Stri­cher, die auch auf härtere Nummern stan­den, gingen trotz­dem mit. Und auch dieje­ni­gen, die aufgrund ihrer Hero­in­sucht jedes Geschäft akzep­tie­ren muss­ten, um an den nächs­ten Schuss zu kommen.

Wenn es schnell gehen musste, ging man gleich um die Ecke auf die Bahn­hofs­toi­lette im Unter­ge­schoss. Hinter dem Bahn­hof gab es auch immer wieder Razzien der Poli­zei, die die Jebens­straße an beiden Ende absperrte und dann alle kontrol­lier­ten, die dort herum­stan­den. Norma­ler­weise wäre das kein Problem gewe­sen, man konnte ja in den Bahn­hof flüch­ten, der offi­zi­ell unter der Verwal­tung der DDR-Reichs­bahn stand. Hier hatte die West-Berli­ner Poli­zei eigent­lich keine Befug­nisse. Manch­mal aber hatten sie sich mit den Trans­port­po­li­zis­ten abge­spro­chen. Und wenn die kurz­zei­tig von innen die Tore zur Straße abschlos­sen, war es nur eine Frage von Sekun­den, bis die West-Poli­zis­ten in die Straße stürmte.

Viele der Jungs, die hier auf den Strich gingen, waren noch viel jünger als ich. Einer von ihnen war erst 13 Jahre, manch andere auch nicht älter als 14 oder 15. Anders als ich waren sie meist nicht schwul, für sie war dieser Job noch viel unan­ge­neh­mer. Erst recht, wenn es Fixer waren, denn die Freier wuss­ten ganz genau, dass sie mit denen alles machen konn­ten, was sie woll­ten. Wer drin­gend Geld für die Droge brauchte, verhan­delte nicht lange. Und manche Männer nutz­ten das leid­lich aus. Mehr als einmal traf ich dort Jungs, die kaum noch stehen konn­ten, wenn sie wieder zurück waren. Immer wieder wurden auch welche geschla­gen und verge­wal­tigt, aber sich dage­gen zu wehren, dafür fehlte ihnen die Kraft.

Es gab auch den Fall eines Mannes, Herbert, den kann­ten die meis­ten von uns. Ich hatte glück­li­cher­weise nie das Pech, ihm in die Finger zu gera­ten, aber mehrere andere hatte er in seiner Wohnung sehr brutal behan­delt. Eines Tages fuhren zwei zivile Poli­zei­wa­gen vor. Wie immer versuch­ten wir zu flüch­ten, doch plötz­lich waren über­all Beamte der Krimi­nal­po­li­zei. Sie inter­es­sier­ten sich aber nur für einen von uns. Manni war schon über 25 Jahre alt und hatte auch damit ange­ge­ben, dass er es Herbert mal so rich­tig gezeigt hätte. Wir hatten das für seine übli­che Ange­be­rei gehal­ten. Tatsäch­lich aber hatte er ihm ein Messer in den Bauch gesto­ßen und war dann abge­hauen. Der Mann war in seiner Wohnung verblu­tet. Wie die Poli­zei auf Manni gekom­men war, wuss­ten wir nicht. Aber auch er über­lebte seine Tat nicht lange, in der JVA Moabit hat er sich bald darauf erhängt.

Selbst wenn man vorsich­tig war, konnte einem immer wieder der falsche Freier unter­kom­men, das wusste ich ja bereits aus Hamburg. Besser war es, wenn man sich einen Stamm von Kunden aufbauen konnte. Die Männer konnte man dann besser einschät­zen, man kannte sie und ihre Vorlie­ben. Weiter­hin musste ich auch Sexprak­ti­ken mitma­chen, die ich eigent­lich nicht wollte, aber wenn man zu wähle­risch war, hatte man bald gar keine Kunden mehr. Doch auch bei aller Vorsicht konnte es schief­ge­hen. So war es bei mir und Wolf­gang. Schon einige Male war ich mit ihm in der Wohnung, immer wenn seine Frau Spät­schicht hatte und er mich in seinem Ehebett benutzte. An diesem Tag aber kam sie früher nach Hause. Anstatt mich einfach raus­zu­schmei­ßen und sich bei ihr zu entschul­di­gen, brüllte er auf mich ein. Ich hätte ihn verführt, dabei wollte er doch nur das Beste für mich. Dann begann er unver­se­hens auf mich einzu­schla­gen, unter ande­rem mit einem Stuhl­bein. All sein schlech­tes Gewis­sen, sein Ekel vor der eige­nen Verlo­gen­heit wandelte er um in Aggres­si­vi­tät, die der nun mit voller Gewalt an mir ausließ. Mir gelang es noch, die Unter­hose anzu­zie­hen, dann flüch­tete ich mit bluten­der Kopf­platz­wunde aus der Wohnung.

Ein paar Tage später wartete ich mit ein paar Freun­den vor dem Haus. Als er heraus kam, verprü­gel­ten wir ihn. Damit war es für mich aber noch nicht erle­digt. Immer wieder war es ja mit Frei­ern zu Ausein­an­der­set­zun­gen gekom­men, auch eine Verge­wal­ti­gung hatte es noch­mal gege­ben. Ich wusste, dass ich mit diesem Leben nicht so weiter­ma­chen konnte.

Und doch war es ein Freier, durch den ich nach etwa drei Jahren den Absprung schaffte. Er war ein netter Kerl und außer­dem Inha­ber einer Drucke­rei. Als ich nach dem Sex mit ihm noch zusam­men­saß, bot er mir an, mich ganz offi­zi­ell dort anzu­stel­len. Erstaun­li­cher­weise akzep­tierte er sofort, dass ich dann aber nicht mehr mit ihm ins Bett wollte. Von einem Tag auf den ande­ren hatte ich eine ganz neue Perspek­tive und blieb tatsäch­lich mehr als ein Jahr in seiner Firma und noch weitere Jahre in dem Gewerbe. Einige Freunde aus der Stri­cher­szene traf ich zwar weiter­hin, aber ansons­ten war es ein abge­schlos­se­nes Kapi­tel meines Lebens. Leider hatten viele von ihnen nicht so viel Glück wie ich.

Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung

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