Mein guter Lehrer

Es war die Zeit, als die ersten revol­tie­ren­den Student*innen der 1968er ins Berufs­le­ben traten. In meinem Fall war es mein Klas­sen­leh­rer, der erste „68er“ in dieser Kreuz­ber­ger Haupt­schule. Zuvor gab es dort fast nur alte Männer und Frauen, die uns auf herkömm­li­che Art Wissen und „Anstand“ vermit­teln woll­ten. Beides auf eine Art, gegen die nicht nur die Studen­ten rebel­lier­ten: Auch in unse­rer Schule gab es viele Jugend­li­che, die keinen Bock auf lang­wei­li­ges Auswen­dig­ler­nen oder die auto­ri­täre Erzie­hung hatten. Im Sport­un­ter­richt muss­ten wir Jungs noch marschie­ren, und dies noch Anfang der 1970er Jahre! Unser Erdkun­de­leh­rer ließ uns jede Woche ein neues Land lernen: Größe, höchs­ter Berg, tiefs­ter See, längs­ter Fluss, Boden­schätze, Flora und Fauna – und „Rasse“ der Bevöl­ke­rung. Unnö­tig zu bemer­ken, dass für ihn Danzig, Bres­lau und Posen noch deut­sche Städte waren, „derzeit“ ille­gal unter polni­scher Verwal­tung.

Und eines Tages stand dieser Mann vor der Klasse. Voll­bär­tig, hohe Stimme, leger geklei­det. Er stellte sich als Rudolf Berg­mann vor (Name geän­dert): „Ihr dürft aber Rudi sagen“. Das war für uns unglaub­lich. Ein Lehrer, den wir duzen durf­ten! Der mit Argu­men­ten kam, statt mit Befeh­len. Und der in der Folge mit uns disku­tierte: Darüber, was in der Welt vor sich ging, aber auch darüber, wie wir im Klas­sen­raum unsere Tische umstel­len könn­ten. Statt Fron­tal­un­ter­richt wurden nun soge­nannte Inseln einge­rich­tet, also Tische zusam­men­ge­scho­ben, es bilde­ten sich kleine Grup­pen zu je sechs Schüler*innen. Zwar war die Tafel noch immer vorn, aber Rudi stand oft auch hinten oder am Fens­ter oder setzte sich zu uns. Und wenn er uns etwas erklärte, dann fragte er zwischen­durch immer nach, ob es alle verstan­den hätten. Er ließ es uns in eige­nen Worten wieder­ho­len, und wenn es jemand nicht wusste, bekam man Hilfe, statt stren­ger Worte.

Plötz­lich gab es da einen Lehrer, der nicht unser Feind war. Rudi Berg­mann wurde inner­halb kürzes­ter Zeit zwar nicht zu einem Freund, aber einem Kompa­gnon. Er besprach mit uns Themen, die vorher nie auf der Tages­ord­nung stan­den und teil­weise auch tabu waren. Ich lernte durch ihn, Mädchen als gleich­wer­tig zu akzep­tie­ren und dass Frauen nicht dass „schwa­che Geschlecht“ sind, als das sie in Medien immer wieder bezeich­net wurden. Mir als heim­lich schwu­lem Jungen half er sehr, als er auch das Thema Homo­se­xua­li­tät ansprach und meinte, jede Liebe sei gleich­wer­tig – egal ob man auf Jungs, Mädchen steht oder beides oder es noch gar nicht so genau weiß. Mit 13, 14 Jahren beginnt man ja erst, Erfah­run­gen in diesem Bereich zu machen und er war defi­ni­tiv derje­nige, der mich mein Leben lang geprägt hat, was Selbst­be­wusst­sein, aber auch Tole­ranz betrifft.

Rudi erzählte uns auch aus seinem Leben. Er wohnte damals in einer Kommune, einer Wohn­ge­mein­schaft mit mehre­ren Leuten. Sie orga­ni­sier­ten alles zusam­men, koch­ten und aßen gemein­sam, bespra­chen was so anstand, ebenso den Alltag der einzel­nen Mitbe­woh­ner. Für uns war beson­ders inter­es­sant, dass es dort auch Kinder gab, die gleich­be­rech­tigt erzo­gen wurden. Sie hatten die glei­chen Rechte wie die Erwach­se­nen, das war für uns eine Sensa­tion. Und sie hatten die glei­chen Pflich­ten, muss­ten also z.B. auch mal den Abwasch machen und beim Einkauf helfen.

Diese Gleich­be­rech­ti­gung ließ er uns auch im Unter­richt spüren. Manch­mal bespra­chen wir, worum sich der Unter­richt drehen sollte. Offi­zi­ell war er unser Lehrer für Deutsch und Englisch, aber in Wirk­lich­keit auch für das Leben und die Gesell­schaft. Ab und zu setz­ten sich irgend­wel­che Leute von der Schul­be­hörde mit in den Unter­richt und hörten einfach nur zu. Er sagte uns, dass sich manche seiner Kolle­gen über ihn beschwert hätten, weil er uns nega­tiv beein­flus­sen würde. Und dass sie am Liebs­ten den ganzen Unter­richt fast mili­tä­risch durch­zie­hen woll­ten. Wir wuss­ten genau, was er meinte, die ande­ren Fächer hatten wir ja bei solchen Lehrern.

Beson­ders inter­es­sant war für mich sein Englisch-Unter­richt. Bis dahin war das für mich ein Hass­fach. Er aber brachte seine Gitarre mit und spielte darauf Lieder, die wir kann­ten. Er über­setzte mit uns die Texte von den Beat­les, Rolling Stones, Imagine von John Lennon. Wir wurden rich­tig neugie­rig darauf zu erfah­ren, was hinter den Songs steckte, von denen wir bisher nur die Musik toll fanden. Im Deutsch-Unter­richt lern­ten wir z.B. Ribbeck von Ribbeck im Havel­land: Wo liegt das Havel­land über­haupt, was hat es mit den Ribbecks auf sich, wie lebten die einfa­chen Menschen dort damals? Hein­rich Heine wurde uns zu einem Begriff, Erich Mühsam, ermor­det nicht weit weg von uns, in Orani­en­burg. Wir lern­ten, die Welt größer zu sehen, die vielen Geschich­ten im Leben wahr­zu­neh­men.

Rudi nahm uns ernst, mit all unse­ren Macken. Einer von uns war Mitglied eines Fanclubs von Hertha BSC, sie nann­ten sich „Hertha-Frösche“. Doch so lustig der Name war – der Club war es nicht, denn dort sammel­ten sich Neona­zis. Mein Mitschü­ler Manfred gehörte zu denen, die sich als „Zyklon B“ von den Fröschen abspal­tete, weil sie ihnen nicht rechts­ra­di­kal genug waren. Die meis­ten von uns waren über­haupt nicht poli­tisch. Rudi meinte aber, dass alles was wir machen poli­tisch sei. Auch wenn es uns nicht bewusst ist oder wir es nicht so meinen. Zum ersten Mal erfuh­ren wir nun vom Holo­caust, vom Hinter­grund des 2. Welt­kriegs und davon, dass viel zu wenige sich gewehrt haben. Er erzählte von versteck­ten Juden, von den Denun­zi­an­ten, aber auch von den Helfern. „Jeder kann etwas Rich­ti­ges tun, auch wenn es nicht immer leicht ist! Und man muss das Rich­tige tun, sonst schämt man sich vor sich selber.“ Das habe ich von ihm gelernt und er hat es wohl so eini­gen von uns beigebracht. Manfred ist bald darauf aus dem Fanclub ausge­tre­ten.

In einer ande­ren Kreuz­ber­ger Haupt­schule wurde zu dieser Zeit ein eben­falls junger Lehrer entlas­sen, weil er Kommu­nist war. Dage­gen gab es dort Protest und Rudi erzählte uns davon. Er erklärte uns, was Kommu­nis­mus war, sprach über die Verbre­chen von Stalin, die Hoff­nun­gen der Wider­ständ­ler gegen die Nazis und schließ­lich die DDR, die wir alle irgend­wie kann­ten. Kreuz­berg lag schließ­lich zu zwei Seiten direkt an der Mauer. Er sagte uns auch, dass nun manche der alten Lehrer sowie die Schul­ver­wal­tung die jungen Neuen wieder loswer­den woll­ten, die Entlas­sung an der ande­ren Schule wäre nur der Anfang. Plötz­lich waren wir ganz direkt betrof­fen, schließ­lich woll­ten wir Rudi Berg­mann nicht verlie­ren.

Am nächs­ten Tag gab es eine Demons­tra­tion, wir hatten morgens schon vor dem Eingangs­tor Flug­blät­ter bekom­men. In der ersten großen Pause wollte die Demo vor unse­rer Schule in der Grae­fe­straße ankom­men, dann soll­ten wir gemein­sam zum Bezirks­amt in der Yorck­straße ziehen. Doch um 9.30 Uhr, als wir alle auf den Schul­hof kamen, war das große Gitter­tor verschlos­sen. Mehrere Lehrer stan­den in einer Reihe davor, damit auch niemand drüber klet­tern konnte.

Als das Klin­geln das Ende der Pause anzeigte, wuchs die Span­nung. Natür­lich woll­ten wir jetzt nicht brav in die Klas­sen gehen. Einige Stre­ber liefen zwar ins Haus, aber sie waren dort allein. Der Rektor rannte aufge­scheucht mit eini­gen Hiwis durch die Menge, schrie einzelne Schü­ler an, packte sie sogar am Arm. Sofort rief eine Schü­le­rin um Hilfe, erschro­cken ließ er sie wieder los. Eines war klar: Sie konn­ten uns zwar auf dem Hof einsper­ren, nicht aber in die Klas­sen­räume zwin­gen. Jetzt erst recht nicht.

Plötz­lich Poli­zei­si­re­nen, Blau­licht auf der Straße, Mann­schafts­wa­gen vor dem Schul­tor. Woll­ten sie uns jetzt etwa ins Haus prügeln lassen? Viele Leute beka­men Angst. Mein Freund, der eigent­lich immer sehr ängst­lich war und deswe­gen von vielen gehän­selt wurde, war auf einmal rich­tig mutig und schrie: „Ihr Arsch­lö­cher“. Er zitterte zwar wie verrückt, aber es war klar, dass er dies­mal nicht nach­ge­ben würde. Mir, aber auch eini­gen ande­ren gab sein Verhal­ten den Mut weiter­zu­ma­chen.

Plötz­lich brann­ten auf dem Schul­hof Müll­ton­nen. Alle schrien „Feuer!” und „Hilfe!” und rann­ten nach vorn auf das Tor zu. Die meis­ten von uns erkann­ten die List sofort, nur die Lehrer nicht. Sie gerie­ten sofort in Panik, zumal die Flam­men und der Rauch schon gut zu sehen waren. Jetzt war das Löschen wich­ti­ger, die armen Schü­ler muss­ten in Sicher­heit gebracht werden. Inner­halb von Sekun­den war das Tor auf, auch die Poli­zis­ten gingen sofort zu Seite, wir stürm­ten auf die Straße. Frei! Ich nahm dann an der ersten Demons­tra­tion meines Lebens teil.

Am Tag danach sagte uns Rudi, dass er die Aktion klasse fand, weil wir plötz­lich selber entschie­den haben, was wir wollen und es auch durch­ge­setzt haben. Dann wurde er aber sehr ernst und sagte sinn­ge­mäß: „Manche von Euch haben aber auch nur mitge­macht, weil die ande­ren vorge­prescht sind und weil es Action gab. Das ist aber gefähr­lich. Es ist wich­tig, nach­zu­den­ken und nicht einfach mitzu­lau­fen. Mitläu­fer sind nicht mutig, sondern feige.“ Unser Stolz auf das Erreichte fiel in sich zusam­men und manche nahmen es ihm übel, dass er uns nicht hoch­le­ben ließ. Aber er hatte natür­lich recht und uns damit gleich die nächste Lektion beigebracht.

Rudi Berg­mann war in vieler­lei Hinsicht ein Vorbild und eine große Hilfe, auch im Alltag. Als ein Mitschü­ler wegen der vielen Prügel des Vaters von zuhause weglief, konnte er in Rudis Wohn­ge­mein­schaft unter­kom­men. Natür­lich war das ille­gal, aber wie er schon sagte: Das Rich­tige ist nicht immer das Leich­teste und manch­mal muss man auch seinen Job dafür riskie­ren. Der Junge jeden­falls blühte auf und wurde bald danach vom Jugend­amt dem Vater wegge­nom­men und zu einer Pfle­ge­fa­mi­lie gebracht. So etwas war damals noch die abso­lute Ausnahme und nur Rudis Anstren­gun­gen zu verdan­ken.

40 Jahre später, ich war schon längst Taxi­fah­rer, hatte ich eine alte Dame im Auto. Ich erfuhr, dass sie genau in dieser Schule arbei­tet und nun bald auf Rente ging. Natür­lich fragte ich sie nach Rudolf Berg­mann. „Ach ja, der Rudi. Er war der belieb­teste Lehrer, bei den Schü­lern und den Kolle­gen. Aber nun ist er in Pension und will wohl nach Afrika gehen.“ Wir unter­hiel­ten uns noch ein biss­chen über ihn und mir wurde noch­mal klar, was ich damals für riesi­ges Glück hatte, ihn als Klas­sen­leh­rer zu haben.

Foto: Ludwig Binder, CC BY-SA 2.0
Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

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2 Kommentare

  1. Ich war zu dieser Zeit in der Gerhart-Haupt­mann-Schule in der Ohlauer Straße. In unse­rer Schule war der Lehrer der raus­ge­schmis­sen werden sollte. Wir haben dann die Demo zu eurer Schule gemacht und zum Rathaus in der York­straße. Unglaub­lich, nach all diesen Jahren von einem ande­ren zu lesen, der dabei war. Auch mich hat die Erfah­rung sehr geprägt. Danke!!

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