Ungeschminkt

Im Staats­auf­trag wurden Doku­men­ta­tio­nen des Alltags in der DDR herge­stellt. Sie verschwan­den unge­se­hen im Archiv. Nun können die Filme kosten­los besich­tigt werden.

Sämt­li­che Filme, die in der DDR gedreht wurden, unter­la­gen der behörd­li­chen Zensur und verbrei­te­ten demzu­folge höchst selten ein reel­les Abbild des sozia­lis­ti­schen Alltags. Alle Filme? Nein! Es gab eine Nische, in der Filme­ma­cher weit­ge­hend frei von staat­li­cher Bevor­mun­dung arbei­ten und (Dokumentar-)Filme drehen konn­ten, die keiner Abnah­me­pflicht durch die Haupt­ver­wal­tung Film im Kultur­mi­nis­te­rium unter­la­gen. Einzige, aber wesent­li­che Voraus­set­zung war, dass kein gewöhn­li­cher Zeit­ge­nosse diese Filme jemals zu Gesicht bekom­men sollte, sie zeit­le­bens der DDR also weder im Kino noch im Fern­se­hen oder auf Festi­vals liefen. Klingt selt­sam? Durch­aus, aber genau das war der Auftrag der Staat­li­chen Film­do­ku­men­ta­tion, einer Abtei­lung des Film­ar­chivs der DDR.

Aus heuti­ger Sicht mutet es wie die Ausge­burt einer kafka­es­ken Büro­kra­tie an, dass eine kleine Schar von Filme­ma­chern im Staats­auf­trag zwischen 1971 und 1986 filmi­sche Doku­men­ta­tio­nen des Alltags in der DDR herstellte, die dann jedoch nie öffent­lich gezeigt werden durf­ten und im Archiv verschwan­den. Dort lager­ten sie und gerie­ten in Verges­sen­heit. Erst seit etwa zehn Jahren wird der Bestand syste­ma­tisch erschlos­sen und im Bundes­ar­chiv digi­tal aufbe­rei­tet.

Das Berli­ner Zeug­haus­kino präsen­tierte jüngst erst­mals in einer Film­reihe eine Auswahl dieses hoch­in­ter­es­san­ten Mate­ri­als einer stau­nen­den Öffent­lich­keit. Tatsäch­lich hat man solcher­art unge­schminkte, authen­ti­sche filmi­sche Einbli­cke in verschie­denste Aspekte des Alltags- und Arbeits­le­bens der DDR nie bisher gese­hen. Eine Fund­grube für Histo­ri­ker, Ethno­lo­gen, Inter­es­sierte, Nost­al­gi­ker, Sozio­lo­gen …!

Gemäß dem Selbst­ver­ständ­nis als Arbeits­ge­sell­schaft spielte die Doku­men­ta­tion der Arbeits­welt eine zentrale Rolle. In den vielen Filmen, in denen Arbei­ter beob­ach­tet und befragt, Arbeits­pro­zesse sowie Fort- und Rück­schritte unter­sucht werden, wird deut­lich, welch hohen Stel­len­wert die Arbeit für den Alltag der Menschen hatte, zugleich aber auch, unter welch widri­gen Umstän­den die Arbeit oft verrich­tet wurde.

Mit dem Müll­auto unter­wegs

In einem Bericht über den VEB Elek­tro­kohle Berlin, dem einzi­gen Herstel­ler für Graphit­pro­dukte in der DDR, spricht der Werks­lei­ter frei­mü­tig über den völlig über­al­ter­ten Maschi­nen­park; die Bilder aus den Werks­hal­len dazu unter­strei­chen das eindrück­lich, unter­stützt durch das körnige Schwarz­weiß des 16mm-Film­ma­te­ri­als.

Ebenso faszi­nie­rend ist eine Repor­tage über die Berli­ner Stadt­rei­ni­gung. Einen Tag lang werden die Männer eines Müll­au­tos auf ihrer Tour durch den Prenz­lauer Berg beglei­tet. Fast hat man verges­sen, in welchem Ausmaß die Gebäu­de­sub­stanz des Altbau­be­zirks von Baufäl­lig­keit und Verfall gezeich­net war. An verwit­ter­ten Fassa­den vorbei geht die Fahrt durch die Gegend um den Koll­witz­platz; wo sich heute die bour­geoise Bohème in den unbe­zahl­ba­ren Eigen­tums­woh­nun­gen räkelt, schlep­pen die Müll­män­ner die schwe­ren Tonnen durch fins­tere Trep­pen­häu­ser und verwahr­loste Hinter­höfe. Am Ende der Schicht sortie­ren sie den Müll beim Ausla­den auf der Depo­nie notdürf­tig. Auffäl­lig viel Brot befin­det sich darun­ter, was vom Irrsinn einer fehl­ge­lei­te­ten Subven­ti­ons­po­li­tik erzählt, die zu solcher­art Miss­ach­tung von Lebens­mit­teln führte, die letzt­lich oftmals an die Schweine verfüt­tert wurden.

Andere Themen­fel­der beschäf­ti­gen sich mit Fami­li­en­si­tua­tio­nen und Formen des Zusam­men­le­bens, sei es eine Stra­ßen­um­frage zum Thema „Was halten Sie von Part­ner­schaft ohne Trau­schein?“ (die meis­ten finden das tole­ra­bel) oder eine Unter­su­chung von Lebens- und Wohn­ver­hält­nis­sen im Gebiet des Berli­ner Scheu­nen­vier­tels.

Über­haupt das Wohnen: Kaum etwas beschäf­tigte die Menschen mehr und griff in ihr Leben ein, wie der Mangel an Wohn­raum bzw. dessen schlech­ter Zustand. Zwar versuchte die Partei­füh­rung, mit massen­haf­tem, stan­dar­di­sier­tem Wohnungs­bau diesen Mangel zu mildern, gleich­zei­tig verfie­len jedoch die Innen­städte, muss­ten Fami­lien in eigent­lich unzu­mut­ba­ren Verhält­nis­sen wohnen, entstand das Phäno­men ille­gal besetz­ter Wohnun­gen.

Jeder Anflug von Nost­al­gie vergeht beim Anblick der Schlange vor der „Wohn­raum­len­kung“ genann­ten Behörde und den dort geführ­ten Bitt­ge­sprä­chen im Kampf um eine bewohn­bare Wohnung. Zitat: „Nun bitte ich den Herrn Stadt­be­zirks­rat für Wohnungs­we­sen, für meinen Sohn doch nun die Möglich­keit zu suchen, eine Wohnung zu bekom­men.“

Voll­ends die Fassung verliert der Betrach­ter beim Report über zwei Fami­lien mit jeweils einem Kind, die sich eine kleine Hinter­hof-Zwei­raum­woh­nung teilen müssen und deren Fazit auf die entspre­chende Frage hin tatsäch­lich lautet: „Als Notfall würde ich uns nicht unbe­dingt bezeich­nen.“ Immer­hin kostet die Wohnung ledig­lich 37,50 Mark, auch das eine unsin­nige Subven­tio­nie­rung, erwach­sen aus der Erfah­rung der Wohnungs­not in den 1920er-Jahren, in der die führen­den Genos­sen des Landes poli­ti­siert wurden.

Die ideel­len Anfänge der Staat­li­chen Film­do­ku­men­ta­tion (SFD) liegen im Dunkel der Eiszeit nach dem 11. Plenum des Zentral­ko­mi­tee der SED 1965, auf dem fast eine ganze Jahres­pro­duk­tion der Deut­schen Film AG (Defa) dem Verbot anheim fiel und auch Bücher, Bühnen­stü­cke und Musik gemaß­re­gelt wurden. In den Jahren danach reifte unter den Funk­tio­nä­ren die Idee, den wider­sprüch­li­chen Weg hin zum wahren Sozia­lis­mus filmisch zu doku­men­tie­ren, ihn aber fürs Erste ins Archiv zu verban­nen, um „unsere Menschen“ nicht zu verwir­ren.

Das hat wohl mit dem pater­na­lis­ti­schen Grund­ver­ständ­nis der führen­den Genos­sen zu tun, die am besten wuss­ten, was man dem Volk, dem „großen Lümmel“ (H. Heine), zumu­ten durfte und was lieber nicht. Wenn schon die offi­zi­elle Kunst­pro­duk­tion einen propa­gan­dis­ti­schen Auftrag zu erfül­len hatte, sollte wenigs­tens inof­fi­zi­ell ein unver­stell­ter Einblick in real­so­zia­lis­ti­sche Lebens­ver­hält­nisse fest­ge­hal­ten und für die Nach­welt archi­viert werden.

Das entsprach dem marxis­ti­schen Sendungs­ge­dan­ken von der „histo­ri­schen Mission“, demzu­folge der Weg hin zum Kommu­nis­mus ein gesetz­mä­ßi­ger war. Wenn dann sozu­sa­gen das Ende der Geschichte erreicht wäre, soll­ten die Filme vor zukünf­ti­gen Gene­ra­tio­nen Zeug­nis able­gen vom schwie­ri­gen Anfang und den mühe­vol­len Schrit­ten, die gegan­gen werden muss­ten.

Unter diesen Vorzei­chen entstan­den unge­fähr 300 sehr unter­schied­li­che Filme, die einen unge­schmink­ten und vor allem unzen­sier­ten und propa­gan­dafreien Einblick in den realen DDR-Alltag zeig­ten. Man kann gar nicht genug beto­nen, welchen Schatz dieser Bestand für Histo­ri­ker darstellt, weil er die Quel­len­lage zur DDR-Geschichte erheb­lich erwei­tert.

Bemer­kens­wert ist die erra­ti­sche Viel­falt der Themen und Heran­ge­hens­wei­sen, mit denen die Filme­ma­cher dem Volk sozu­sa­gen auf’s Maul schau­ten. Mit dem Auftrag, möglichst die gesamte Gesell­schaft zu doku­men­tie­ren, dran­gen sie in sonst unge­se­hene Nischen vor und fingen Stim­mun­gen und Momente ein, in denen sie einen unge­wöhn­lich offe­nen Blick auf die DDR und ihre Menschen warfen. Unter filmi­schen Gesichts­punk­ten ist das Mate­rial durch­aus spröde und manch­mal unbe­hol­fen; da die Filme ja nie zur Veröf­fent­li­chung vorge­se­hen waren, verzich­tete man weit­ge­hend auf filmi­sche Stil­mit­tel wie eine narra­tive Montage oder einen Span­nungs­bo­gen; häufig wirken sie wie unge­schnit­te­nes Rohma­te­rial, was es ja auch war.

Die Span­nung ergibt sich nicht aus einer geschick­ten Drama­tur­gie, sondern aus der Authen­ti­zi­tät des Gezeig­ten. Manch Unzu­läng­lich­keit war den begrenz­ten finan­zi­el­len Mitteln geschul­det. Das ist auch der Grund, weshalb die meis­ten Filme in Berlin gedreht wurden; für Recher­chen außer­halb der Haupt­stadt fehlte oft das Geld oder das einzige Fahr­zeug der Abtei­lung war kaputt.

Eine Aufgabe der SFD war es auch, wich­tige Persön­lich­kei­ten des öffent­li­chen Lebens, aus Kunst und Kultur zu ihren Lebzei­ten filmisch fest­zu­hal­ten. Etwa die Hälfte der Produk­tion besteht aus „Perso­nen­do­ku­men­ta­tio­nen“, darun­ter Künst­ler, Schau­spie­ler, Schrift­stel­ler, aber auch Hand­wer­ker ausster­ben­der Gewerke, Puppen­spie­ler. Sogar ein Kera­mi­ker, über­zeug­ter Christ und Wehr­dienst­ver­wei­ge­rer, berei­chert die illus­tre Runde, womit die Kolle­gen bei der SFD bis an die Grenze des Mach- bzw. Zeig­ba­ren gingen.

Eine staat­li­che Abnahme, also Zensur, musste es für diese Filme gar nicht geben, auch ohne wusste jeder­mann, wie weit er gehen durfte. Die berühmte Schere im Kopf hatten die meis­ten auch ohne behörd­li­che Über­wa­chung verin­ner­licht. Deut­lich wird das in einem gefilm­ten Gespräch zwischen dem Chef­re­dak­teur der Lite­ra­tur­zeit­schrift Sinn und Form Wilhelm Girnus sowie dem Schrift­stel­ler Günther Rücker und Autor Wolf­gang Kohl­h­aase. Die drei reden über die Frei­heit der Kunst, zu früh abge­bro­chene Diskus­sio­nen und die Notwen­dig­keit, abwei­chende Meinun­gen zuzu­las­sen.

Einer­seits ist es berüh­rend zu sehen, mit welch nach­denk­li­cher Ernst­haf­tig­keit abge­wo­gen und gespro­chen wird, mit einem (naiven) Glau­ben daran, dass Gespräch nütz­lich und Verän­de­rung möglich ist. Ande­rer­seits wirkt die Runde zugleich wie ein grotes­kes Schau­spiel, denn alle drei reden gekonnt um den großen Elefan­ten im Raum herum – das Wort Zensur fällt kein einzi­ges Mal. Noch größer wird der Elefant, wenn man erfährt, dass dieser Film 1978 entstand, keine zwei Jahre nach der Ausbür­ge­rung Wolf Bier­manns und den sich anschlie­ßen­den Repres­sa­lien gegen miss­lie­bige Künst­ler.

Die Zukunft ist jetzt

1986 wurde die Abtei­lung schließ­lich aufge­löst. Folgt man der Histo­ri­ke­rin Anne Barn­ert, die ein Buch über diesen Komplex heraus­ge­ge­ben hat, wurde das Privi­leg der SFD, unzen­sierte Einbli­cke in den DDR-Alltag zu geben, für die Funk­tio­näre zuneh­mend zum Problem. Die Visio­nen waren aufge­braucht, der Zukunfts­op­ti­mis­mus verblasst. Und wann sollte diese Zukunft über­haupt sein? In 30, 50 oder 100 Jahren?

Das Bundes­ar­chiv hat diese Antwort vorweg­ge­nom­men, indem sie die filmi­schen Doku­mente eines gesell­schaft­li­chen Expe­ri­ments (und dessen Schei­tern) dem Verges­sen entzo­gen und damit sozu­sa­gen fest­ge­legt hat, dass jetzt die Zukunft ist – die frei­lich kaum etwas mit der einst imagi­nier­ten zu tun hat.

Nun werden Sie, liebe Lese­rin­nen und Leser, vermut­lich bedau­ern, die Film­reihe im Zeug­haus­kino verpasst zu haben, aber dem kann abge­hol­fen werden: Mitt­ler­weile kann der gesamte Bestand der Staat­li­chen Film­do­ku­men­ta­tion online im digi­ta­len Lese­saal des Bundes­ar­chivs besich­tigt werden, kosten­los und ohne Anmel­dung. Über die letz­ten Jahre sind die erhal­te­nen Film­ko­pien komplett digi­ta­li­siert worden. Ange­sichts knap­per Kassen eine bemer­kens­werte Leis­tung, die auch für die Bedeu­tung dieses Konvo­luts für Zeit­his­to­ri­ker spricht.

Frank Schirr­meis­ter
Studier­ter Histo­ri­ker, Foto­graf und Bild­re­dak­teur aus Berlin. Außer­dem schreibt er.

Akti­vie­ren Sie Java­Script um das Video zu sehen.
https://www.youtube.com/watch?v=HS3A0i4O8oo

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

print

Zufallstreffer

Berlin

Berliner Winter

Der Winter hat ja seine eigene Atmo­sphäre, so wie auch die Nacht. Der Schnee schluckt viele Geräu­sche, die Menschen stak­sen da durch, vorsich­tig, um nicht auszu­rut­schen. Um 1 Uhr morgens, nörd­li­che Fried­rich­straße. Kaum ein Auto, […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*