Grenzenlos denken

Es war ein großer Auftrieb, der den klei­nen idyl­li­schen Schwei­zer Ort Locarno im Okto­ber 1925 für elf Tage heim­suchte. Staats­män­ner aus sieben Ländern, darun­ter die Regie­rungs­chefs aus Deutsch­land (Hans Luther), Frank­reich (Edouard Herriot) und England (Stan­ley Bald­win), kamen hier zu einer aufse­hen­er­re­gen­den Konfe­renz zusam­men; die wich­tigs­ten Teil­neh­mer waren wohl der deut­sche Außen­mi­nis­ter Gustav Stre­se­mann und sein fran­zö­si­scher Amts­kol­lege Aris­tide Briand.

Hier, in der traum­haf­ten Umge­bung des Lago Maggiore, fand vor 100 Jahren, vom 5. bis zum 16. Okto­ber 1925, die Konfe­renz von Locarno statt. Sie sollte die euro­päi­sche Außen­po­li­tik auf eine neue Ebene stel­len und wurde zu einem Meilen­stein der so schwie­ri­gen deutsch-fran­zö­si­schen Bezie­hun­gen.

Der rechts­li­be­rale Gustav Stre­se­mann hatte erkannt, dass eine Verstän­di­gung zwischen Deutsch­land und Frank­reich nach dem jahre­lan­gen Abschlach­ten des Ersten Welt­krie­ges mit 17 Millio­nen Toten die grund­le­gende Voraus­set­zung für einen dauer­haf­ten Frie­den war.

Und da sein fran­zö­si­scher Amts­kol­lege, der links­li­be­rale Aris­tide Briand, das genauso sah, kam es schließ­lich zur Konfe­renz von Locarno, die unter ande­rem mit Deutsch­lands Aner­ken­nung seiner bis dahin umstrit­te­nen Gren­zen im Westen endete. Stre­se­mann verhin­derte zwar das Glei­che für die eben­falls umstrit­tene Grenze zu Polen, aber der Vertrag von Locarno war trotz­dem ein echter Neuan­fang. Obwohl die Rech­ten in beiden Ländern ihn heftig bekämpf­ten, hätte daraus Großes werden können.

Locarno hatte noch eine unmit­tel­bare Folge. In Deutsch­land wie in Frank­reich und auch in ande­ren Ländern tauchte für einige Jahre eine neue Vision, eine neue große Hoff­nung am Hori­zont auf: Europa. Die Annä­he­rung der Staats­män­ner beflü­gelte eine Idee, die vielen Poli­ti­kern, Lite­ra­ten und Wirt­schafts­ver­tre­tern bisher völlig utopisch erschie­nen war, jetzt aber in den Bereich des Mögli­chen zu rücken schien: die Verei­nig­ten Staa­ten von Europa oder, wie dieses Staa­ten­ge­bilde auch genannt wurde, Paneu­ropa.

Ohne echte Breitenwirkung

Ganz neu war diese Idee nicht. Schon in den Jahren zuvor hatte das Erschre­cken über den Großen Krieg vorwie­gend im sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und links­li­be­ra­len Spek­trum zu der Forde­rung geführt, die euro­päi­schen Staa­ten müss­ten sich, auf welche Weise auch immer, verei­nen. Die Lage auf dem Konti­nent beschrieb der Sozi­al­de­mo­krat Eduard Bern­stein nach dem Krieg so: „Nur noch als geogra­phi­scher Begriff und krie­ge­ri­sches Schlacht­feld exis­tiert Europa gegen­wär­tig fort, und das kommende Europa droht zunächst auch nur ein geogra­phi­scher Begriff zu sein. Das Gefühl einer Gemein­sam­keit von Inter­es­sen ist ertö­tet … kalt und miss­trau­isch werden sich seine großen Natio­nen gegen­über­ste­hen.“

Der junge unga­ri­sche Graf Richard Niko­laus Couden­hove-Kalergi reagierte als Erster und grün­dete 1922 die über­par­tei­li­che inter­na­tio­nale Paneu­ropa-Union. Es gelang ihm, zahl­rei­che bedeu­tende Poli­ti­ker zu großen Kongres­sen zu versam­meln. Auch die SPD verab­schie­dete wenige Wochen vor Locarno ihr neues Partei­pro­gramm, in dem ausdrück­lich die Verei­nig­ten Staa­ten von Europa gefor­dert wurden. Es war das erste Mal, dass eine deut­sche Partei sich für dieses Ziel einsetzte. Doch eine echte Brei­ten­wir­kung konnte Europa noch nicht entwi­ckeln.

Das änderte sich jetzt, nach Locarno. Nun fanden sich plötz­lich immer mehr Befür­wor­ter einer euro­päi­schen Verei­ni­gung, die ihre Hoff­nung darauf auch in Zeitun­gen und Zeit­schrif­ten, auf Kongres­sen und im Reichs­tag offen­siv vertra­ten. In der nun rasch breit anschwel­len­den Diskus­sion über Europa spielte die SPD neben der links­li­be­ra­len Deut­schen Demo­kra­ti­schen Partei (DDP), in der sich viele Intel­lek­tu­elle versam­mel­ten, der katho­li­schen Zentrums­par­tei sowie der wirt­schafts­na­hen, rechts­li­be­ra­len Deut­schen Volks­par­tei (DVP) von Außen­mi­nis­ter Stre­se­mann eine führende Rolle.
Auch berühmte Schrift­stel­ler wie Hein­rich Mann, Emil Ludwig und Stefan Zweig schlos­sen sich dieser Forde­rung an, Thomas Mann folgte zunächst zöger­lich. Heute, 100 Jahre später, ist diese Diskus­sion leider völlig verges­sen.

Weil die Ausein­an­der­set­zung noch ganz am Anfang stand, musste zunächst über ganz grund­le­gende Fragen gespro­chen werden. Wer sollte eigent­lich Teil dieses verein­ten Euro­pas werden? Was war mit den Kolo­nien der euro­päi­schen Staa­ten? Wie sollte sich dieses neue Staa­ten­ge­bilde orga­ni­sie­ren – als locke­rer Staa­ten­bund oder als Bundes­staat? Und wie sollte seine gemein­same Wirt­schaft aufge­baut sein? Aus heuti­ger Sicht wurden manch­mal skur­rile Ideen disku­tiert, aber es ist doch erstaun­lich, wie modern vieles anmu­tet.

Skur­ril war vor allem die Forde­rung, dass die Kolo­nien der euro­päi­schen Staa­ten – dabei ging es vor allem um die fran­zö­si­schen und engli­schen – unbe­dingt Teil dieses Euro­pas werden soll­ten. Fast alle Disku­tan­ten waren sich einig, dass das verei­nigte Europa auf die Kolo­nien als billige Rohstoff­lie­fe­ran­ten nicht würde verzich­ten können. Diese Diskus­sion hatte eine kuriose Folge: Manche Karten von Europa umfass­ten auch große Teile Afri­kas und Asiens. Das zeigt, wie sehr alle Staa­ten und viele Poli­ti­ker damals noch im kolo­nia­len Denken verhaf­tet waren.

Die Frage der Kolo­nien spielte auch bei dem Problem, über das am heftigs­ten gestrit­ten wurde, eine wich­tige Rolle: Was sollte eigent­lich mit England bezie­hungs­weise Groß­bri­tan­nien werden? Die Kriti­ker einer Zuge­hö­rig­keit Englands sahen in diesem Kolo­ni­al­reich eine Art supra­na­tio­na­len Zusam­men­schluss, der ein verein­tes Europa spren­gen würde. Ande­rer­seits war England ein euro­päi­scher Staat.

Das Dilemma fasste der SPD-Poli­ti­ker Willy Haubach so zusam­men: „Ohne England geht es nicht, mit dem briti­schen Welt­reich als Ganzem aber kann niemand rech­nen.“ Dass die bolsche­wis­ti­sche Sowjet­union nicht zu Europa gehö­ren sollte, war weit­ge­hend unstrit­tig. Im Gegen­teil, vor allem die Libe­ra­len sahen im verein­ten Europa sogar ein Boll­werk gegen das „asia­ti­sche“ Riesen­reich im Osten.

Fast durch­ge­hend herrschte die Meinung vor, dass die wirt­schaft­li­che Verei­ni­gung der poli­ti­schen voran­ge­hen müsse. Es gab eine Reihe von vehe­men­ten Befür­wor­tern einer euro­päi­schen Zoll­union. Alle Zölle inner­halb Euro­pas soll­ten abge­baut werden. Wladi­mir Woytin­ski, ein russi­scher Emigrant, der vor den Bolsche­wis­ten nach Deutsch­land geflo­hen war, sich hier der SPD ange­schlos­sen hatte und für den Allge­mei­nen Deut­schen Gewerk­schafts­bund (ADGB) arbei­tete, schrieb: „In der Besei­ti­gung dieser Zölle, in der Befrei­ung Euro­pas von diesem Alb, besteht der Sinn der Zoll­union.“ Die Kritik am „protek­tio­nis­ti­schen Tamtam“ und am „Fieber des Protek­tio­nis­mus“ war weit verbrei­tet in der Wirt­schaft und in den euro­pa­freund­li­chen Parteien. Ein Mittel wurde auch in inter­na­tio­na­len indus­tri­el­len Zusam­men­schlüs­sen gese­hen, selbst von Teilen der SPD.

Manche Vorstel­lun­gen gingen sogar noch weiter. So wurde zum Beispiel im März 1930 ein „Paneu­ropa der Elek­tri­zi­tät“ disku­tiert – dabei ging es um den Plan, norwe­gi­schen Strom nach Deutsch­land zu leiten. Ähnli­che Anre­gun­gen gab es für den Schie­nen- und den Luft­ver­kehr sowie den Rund­funk. Der DDP-Abge­ord­nete Wilhelm Heile forderte einen Zusam­men­schluss des Verkehrs­we­sens und schrieb: „Während die höchs­ten Gebirge für den Verkehr keine Hinder­nisse mehr sind, stockt in Europa der Verkehr an den Dutzen­den von poli­ti­schen Gren­zen, die nicht bloß Zoll- und Pass­gren­zen, sondern auch Gren­zen des Verkehrs­we­sens selbst sind.“

Das bedeu­tet nicht, dass die Proeu­ro­päer blau­äu­gig waren. Der Volks­wirt­schaft­ler Wladi­mir Woytin­ski forschte viel zu den Proble­men und mögli­chen Auswir­kun­gen einer euro­päi­schen Verei­ni­gung für die Wirt­schaft und den sozia­len Bereich und verfasste unend­lich viele Arti­kel und eine Reihe von Büchern. Woytin­ski ist heute völlig verges­sen. Zu Unrecht, denn er ist einer der wich­tigs­ten Väter der euro­päi­schen Eini­gung in Deutsch­land. Nach­dem die Natio­nal­so­zia­lis­ten an die Macht gekom­men waren, musste er erneut emigrie­ren, dies­mal in die USA, wo er 1960 starb.

In seinem Buch „Tatsa­chen und Zahlen Euro­pas“ aus dem Jahr 1930 führte er aus, dass die euro­päi­schen Staa­ten ihre Waren zu 90 Prozent auf dem Konti­nent verkauf­ten und zu 75 Prozent von ande­ren euro­päi­schen Ländern impor­tier­ten. Außer­dem könne Europa seine Probleme nur gemein­sam lösen: die Ernäh­rungs­frage, das Rohstoff- und Absatz­pro­blem sowie die sozia­len und wirt­schaft­li­chen Probleme. Vor diesem Hinter­grund waren inner­eu­ro­päi­sche Zoll­schran­ken schlicht Unsinn, der Zwang zur Zusam­men­ar­beit drängte sich auf.

Die Debatte um die Verei­ni­gung Euro­pas nahm mit Locarno rich­tig Fahrt auf. Als aber im Herbst 1929 die Welt­wirt­schafts­krise ausbrach, such­ten die Staa­ten ihr Heil wieder in natio­na­ler Poli­tik. Der Europa-Plan Briands bekam ein „Begräb­nis erster Klasse“, wie es Außen­mi­nis­ter Julius Curtius, der Nach­fol­ger des am 3. Okto­ber 1929 gestor­be­nen Stre­se­mann, formu­lierte.

Rechtsextreme an der Macht

Der Rest ist Geschichte. In Deutsch­land herrsch­ten bald die Natio­nal­so­zia­lis­ten, und auch in vielen ande­ren Ländern über­nah­men Rechts­extreme die Macht. Schließ­lich begann Nazi­deutsch­land den Zwei­ten Welt­krieg. Es musste erst noch mal rund 60 Millio­nen Tote geben, ehe sich zunächst einige west­eu­ro­päi­sche Staa­ten endlich zusam­men­rauf­ten und die Euro­päi­sche Gemein­schaft bilde­ten, aus der die Euro­päi­sche Union wurde. Nach dem Ende des Kalten Krie­ges trat eine Reihe osteu­ro­päi­scher Staa­ten bei.

Der Locarno-Vertrag vor 100 Jahren und die anschlie­ßende Europa-Debatte zeigen, dass der Weg in den Zwei­ten Welt­krieg keines­wegs zwangs­läu­fig war. Aber sie entpupp­ten sich als eine vertane Chance – und das muss uns heute eine wich­tige Mahnung sein. Denn es zeigt uns, dass der Konti­nent nur dann eine fried­li­che Zukunft hat und auf Augen­höhe mit den USA,
China und bald auch Indien reden kann, wenn die euro­päi­schen Staa­ten zusam­men­ste­hen und sich zu einem immer enge­ren staat­li­chen Gebilde verei­nen.

Natür­lich ist die heutige EU nicht perfekt – daran kann man arbei­ten. Aber sie ist die einzige Möglich­keit, uns Frie­den und Frei­heit zu sichern. Fallen wir nicht auf die rechts­na­tio­na­len Quack­sal­ber herein! Ein Blick zurück zeigt uns, wie sonst unsere Zukunft ausse­hen kann.

Armin Fuhrer
Jour­na­list, Histo­ri­ker und Autor mehre­rer Bücher

Foto: E. Stei­ne­mann

Wiki­me­dia Commons, CC BY-SA 4.0

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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