Anständige Antworten

Die meis­ten Berli­ner Spazier­gänge sind auch S- oder U‑Bahn-Fahr­ten. Ohne diese durch viel Inner­lich­keit führen­den Bahnen, denen man (bilde ich mir ein) weh tut, wenn man sie büro­kra­tisch-seelen­los Verkehrs­mit­tel nennt, wäre Berlin nicht Berlin; gar nicht erfahr­bar: da sind die Wörter doppel­deu­tig genug.
“Hier Schö­ne­weide?” fragt ängst­lich ein unsi­che­rer alter Mann.
“Nee! Hier Posemuckel!” ruft der Basken­müt­zige, der wie ein gewe­se­ner Lehrer aussieht, obwohl er gewiss noch ein akti­ver sein könnte.
“Entschul­di­gung”, sagt die altmüt­ter­li­che S‑Bahn-Nach­ba­rin mit der Strick­mütze da und scheint sich aufzu­rich­ten: “Entschul­di­gung, mein Herr, das hier is Neukölln, dann kommt noch Köll­ni­sche Heide und Baum­schu­len­weg, und dann kommt Schö­ne­weide”, und nach­dem sie so den fragen­den Auslän­der ordent­lich beschie­den hat, wendet sie sich lang­sam und bestimmt an den Lehrer:
“Nu hörn sie mah! Wenn man anstän­dig gefragt wird, muss man anstän­dig Antwort gehm!” und schweigt und blickt hinaus auf das anstän­dig benannte Gelände. Ein biss­chen pein­lich, Gott sei Dank, ist das dem Gewe­se­nen nun auch: “Natür­lich, da stimm ich Ihn zu: anstän­dig antwor­ten, das hahm wir früher gelernt. Aber jetzt komm hier alle Mögli­chen rein und grei­fen unsre Infor­ma­tio­nen ab. Was mein Sie, was hier inter­na­tio­nal los is! Sehn se doch: früher über­all NVA, jetzt über­all Wach­schutz! Un wir sitzen auf dem Vulkan!”
Die Strick­müt­zige hört lang­sam auf, aus dem Fens­ter zu gucken, sagt mit festem Blick auf die Basken­mütze erst quit­tie­rend: “Gut”, dann: “Aber deshalb muss man doch anstän­dige Antwort gehm auf anstän­dige Fragen von eihm, der nich Bescheid weiß. Was Sie reden, iss Philo­so­phie, aber ne anstän­dige Antwort iss ett nich.”
Damit: an Schö­ne­weide, wir alle raus: der Auslän­der, der schnell Distanz zu uns gewin­nen will, die Strick­müt­zige, die lang­sam und aufrecht geht, mit sich zufrie­den, der Basken­müt­zige, der so tut, also sei nichts gewe­sen und sogar ein biss­chen pfeift, während er mich über­holt, und eben ich, der nun hinaus­tritt in den früh­lings­haf­ten himmel­blauen Janu­ar­mon­tag, zufrie­den mit Berlin, das zu anstän­di­gen Antwor­ten bereit ist auf anstän­dige Fragen.

Damit bin ich durch den Tunnel, an dem ganz Europa mitge­zahlt hat, unter der Grünauer Straße durch, dieser halben Auto­bahn, drüben auf der Schnel­ler­straße, der sie bisher ihren Wider­stands­na­men gelas­sen haben, glück­li­cher­weise, die Geschichte ist kein Wunsch­kon­zert, und ich bin am “Studio für indi­vi­du­elle Glas­ma­le­rei” vorbei links in die Flut­straße einge­bo­gen: Flut­straße, Fließ­straße, Hasselwerder‑, Hain‑, Fenn­straße, land­schaft­li­che Namen für eine Stadt­ge­gend, die — kaum war die Eisen­bahn da — zu einem Jahr­hun­dert Indus­trie­ge­schichte so heftig empor­schoss, dass sie sich gar nicht mehr ordnen konnte: Arbei­ter­wohn­haus neben Arbei­ter­wohn­haus, ab und zu eine Protz­fas­sade.
Hinter dem Kultur­haus Ernst Schnel­ler streckt sich jetzt weit­hin zur Spree Brache, einge­eb­nete Gewe­sen­heit, Mauer drum rum, im Hinter­grund die berühm­ten AEG-Hallen, aber kein AEG mehr, hier ist das deut­sche Indus­trie­jahr­hun­dert zu Ende und verwan­delt sich — viel­leicht, wenn wir Glück haben — ins Mittel­stän­di­sche, das leiser ist, ruhi­ger, mate­ri­al­är­mer, blau­pau­si­ger.
Gegen­über die Fassade der letz­ten Wohn­häu­ser vor den ehema­li­gen Produk­ti­ons­stät­ten haben sich verdun­kelt, blät­tern ab in großen Flächen, entklei­den die Hohl­steine; kaum Menschen, der Mann, der seinen Hund scharf und unfreund­lich anre­det, sieht arbeits­los aus, Arbeits­lo­sen­quote des Bezirks 16,1 Prozent. Auch die Firma Schnei­de­wind sit fort, Marki­sen, 200 Designs, vor dem offe­nen Tor an dem klei­nen Platz, den Fenn- und Hassel­wer­der­straße bilden, ein alter Fern­se­her und ein alter Weih­nachts­baum: wie ein Envi­ron­ment aus dem Hambur­ger Bahn­hof, Museum der Gegen­wart, hier hat man’s ganz ohne Eintritt. Eine ehema­lige Gegen­wart, die Ruhe und in gewis­ser Weise auch die Schön­heit gewe­se­ner Dinge, abge­schlos­se­nen Lebens. Ich gehe durch eine Zeit­pause, die Fassa­den machen Pause, sie werden sich bald erneu­ern und in einer neuen Iden­ti­tät erhel­len.
Man sieht die laufende Zeit von unten, die Fenn­straße hoch, schon herauf­zie­hen: Eigen­tums­woh­nun­gen zu verkau­fen, neben der expres­sio­nis­ti­schen Post, deren Fassade (1929/30 von Engel & Hoff­mann) heute erst recht ein archi­tek­to­ni­sches Getöse veran­stal­tet, dem von innen her nichts entspricht: Museum, neben dem aber — wie gesagt — die kapi­ta­lis­ti­sche Zeit der Eigen­tums­woh­nun­gen spree­wärts ziehend schon vorbei ist. Und da nun aller­dings kommt die Über­ra­schung: zwischen Hasselwerder‑, Brit­zer und Hain­straße die Spree­sied­lung, ein Ensem­ble von neun Miets­häu­sern, das die Hain­straße erschließt und das sich in verschie­de­nen Formen zur Spree hin öffnet: aus allen Wohnun­gen, oder aus fast allen, kann man den Fluss sehen, in dessen Namen Berlin dem klas­si­schen Athen ähnlich wird.

Gebaut 1931/32, in letz­ter demo­kra­ti­scher Stunde, von Paul Mebes und Paul Emme­rich, Spit­zen­ar­chi­tek­ten in Berlins erster demo­kra­ti­scher Haupt­stadt­phase.
Die gemein­nüt­zi­gen Genos­sen­schaf­ten, Gesell­schaf­ten von Gewerk­schaf­ten, Beam­ten­bün­den, versuch­ten zu tun, was sie konn­ten, um den Mehr­heits­ber­li­nern, die bisher unter der Haupt­stadt gelit­ten hatten, Aussich­ten zu schaf­fen; im wört­lichs­ten Sinne: Aussicht, hier: auf die Spree, im über­tra­gen­den Sinne: auf ein bezahl­ba­res, wetter­fes­tes Dach überm wohnen­den Kopf.
Mebes hatte Tisch­ler gelernt, ehe er studiert hatte und Archi­tekt gewor­den war. Er liebte Quali­tät. Quali­tät ist eine geis­tige, keine ökono­mi­sche Kate­go­rie. Man sieht es seinen Häusern an, so sehr die Zeit sie annagt und abfrisst von außen und innen. Von dem ocker- oder rotfar­be­nen Putz aus gemah­le­nem Porphyr und gelbem Kies sieht man kaum noch etwas. Aber das kommt wieder. Anstän­dige Antwor­ten gelten. Die Sträu­cher am Ufer­weg, an dem die Boote liegen, werden eben beschnit­ten, das Gras grünt von selbst, die Spree fließt, gegen­über in den Hallen der ehema­li­gen Groß­in­dus­trie rich­tet sich Hoff­nung ein, nebenan in der Hoch­schule “Ernst Busch” proben sie: Was ihr wollt. Was wollen wir? Frie­den und Arbeit.
Ich gehe die Brit­zer Straße abwärts bis zur Frie­dens­kir­che, deren Pfar­rer Huhn heißt wie ich, sogar einen Unga­risch-Kursus bieten sie an, keine Rede mehr von “Deut­schen Chris­ten”, die den Namen Jeho­vas in Luthers Kirchen­lied stri­chen, weil Gott, der Herr, einen jüdi­schen Namen hatte; unan­stän­dige Antwor­ten.
Man muss sie sich verbit­ten.
Nieder­schö­ne­weide als Lehr­ort, denke ich, als ich die Trep­pen zum S‑Bahnhof wieder hinauf­steige und mich im Geiste bei der Alten in der Strick­mütze bedanke, die wusste, was Philo­so­phie und was anstän­dig ist.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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