Nachtgestalten

Zuerst dachte ich nur, dass der Wind ein Stück Papier Pirou­et­ten drehen lässt. Im nächt­li­chen Dunkel am Ostbahn­hof, da wo die Fahr­rä­der in langen Reihen an die Zäune geket­tet sind. Immer wieder frage ich mich, wo eigent­lich all die Radfah­rer sind, denen sie gehö­ren. Sind sie alle mit dem Rad zum Bahn­hof gefah­ren und dann verreist? Manche müssen dann aber schon sehr lange weg sein, so verdreht und geschun­den sehen sie aus. Viel­leicht sind es auch die Fahr­rä­der verges­se­ner Menschen, die niemand vermisst, ebenso abge­stellt wie ihre Besit­zer. Ohne Aufgabe stehen sie nur noch nutz­los in der Gegend herum, rosten vor sich hin, die Abgase der vorbei fahren­den Autos und warten­den Taxis legen eine graue Schicht über die einst bunt lackierte Haut.
Unten, zwischen den Spei­chen, sammelt sich der Unrat. Hier kommt die Stadt­rei­ni­gung nie hin, die  Vermül­lung kann unge­stört ihr Werk voll­enden. Zwischen den Rädern, gleich am Boden, bewe­gen sich die losen Blät­ter. Von Bäumen können sie nicht stam­men, die gibt es hier nicht. Eher sind es weg gewor­fene Über­bleib­sel des Alltags. Zerris­sene Zeitun­gen, benutzte Taschen­tü­cher, unge­le­sene Werbe­zet­tel. In den Spei­chen gefan­gen zittern sie bei jedem Wind­hauch.

Aber da ist noch mehr: Dieses dunkle Etwas ist kein altes Blatt Papier, es huscht zwischen zwei Rädern umher. Schnelle Bewe­gun­gen, die Ratte sichert ihre Beute nach allen Seiten. Viel­leicht hat sie die Über­reste eines Burgers oder einer Stulle entdeckt, die Ecken des Bahn­hofs können für manchen wie ein gedeck­ter Tisch sein. Der Bus, der jetzt donnernd vorüber wummert, stört sie nicht. Dann plötz­lich aber bleibt sie stehen, starrt in meine Rich­tung. Und inner­halb einer Sekunde ist die Ratte geflüch­tet.
Der Ostbahn­hof ist für mich nur eine Einnah­me­quelle. Für sie ist er ein Zuhause. Aber ebenso für ihre Feinde, die Stra­ßen­kat­zen.
Wohl bekomm’s!

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Zufallstreffer

2 Kommentare

  1. Die Sache mit den Fahr­rä­dern muss ein sehr weit verbrei­te­tes Phäno­men sein. Genauso wie immer alle Fahr­rad­stän­der voll sind und ich trotz­dem noch irgendwo einen Platz für meinen schwar­zen Blitz finde.

    Bei unse­rem Bahn­hof vor Ort werden so unge­fähr einmal im Jahr die Fahr­rä­der ausge­mis­tet, dann wird zwei Wochen vor der Räumung an jedes alt ausse­hende Rad (platte Reifen, total verros­tet etc.) ein Zettel range­klebt, dass bei Nicht­räu­mung das Rad verschwin­det. Es hilft auch — für etwa eine Woche . Danach siehts aus wie immer, alle Fahr­rad­stän­der sind voll mit Rädern, die nieman­dem zu gehö­ren schei­nen, ja nicht mal fahr­tüch­tig wirken …

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