Böhse, böhse

Viel­leicht hatte der Kollege ja auch nur einen schlech­ten Tag. Jeden­falls stand ich nach vielen Jahren mal wieder an der Halte am Kott­bus­ser Tor, direkt vor ihm. Im Player lief eine CD der Böhsen Onkelz, laut, aber der Kälte geschul­det bei geschlos­se­nem Fens­ter.
Der Kollege lief erst­mal komplett um meinen Wagen, fixierte die Aufkle­ber mit dem Firmen­na­men und trat dann ans Fens­ter ran:
“Meinst du nicht, dass du in der falschen Gegend stehst?”
Ich verstand erst über­haupt nicht, was er meinte.
“Immer­hin wohnen hier viele Türken.”
“Ja, und?”
“Wenn du solche Nazi­mu­sik hörst, hast du doch sicher auch was gegen Auslän­der.” Er gab sich große Mühe, empört zu wirken.
“Nö, hab ich nicht. Du etwa?”
“Nein, aber ich höre auch keine Faschomu­cke. Also mach den Dreck aus und verpiss dich hier!”
Jetzt fiel bei mir auch der Groschen, was er meinte. Offen­sicht­lich gehörte er zu den Schlau­mei­ern, die die Onkelz für Rechts­extre­mis­ten halten, ohne die Reali­tät der vergan­ge­nen Jahr­zehnte wahr­zu­neh­men.
Tatsäch­lich hatte die Band in den ersten 80er Jahren eine rechts­ra­di­kale Phase. Danach jedoch haben die Onkelz bis zu ihrer Auflö­sung noch 20 Jahre lang eindeu­tig gegen Nazis Stel­lung bezo­gen, in zahl­rei­chen Liedern, Auftrit­ten und Inter­views. Aber das passt dem Hüter der ideo­lo­gi­schen Weis­heit anschei­nend nicht in den Kram.
Ich habe schon lange aufge­hört, mit Leuten zu disku­tie­ren, die unab­hän­gig von der Reali­tät nur ihre Vorur­teile bestä­tigt haben wollen. Und ich finde es schä­big, Menschen eine Weiter­ent­wick­lung zu verwei­gern. Offen­bar sind einige schon immer heilig gewe­sen.

Jeden­falls habe ich nur “Tschüss” gesagt und das Fens­ter wieder hoch­ge­fah­ren. Ich bin es einfach leid, mir von solch arro­gan­ten Ideo­lo­gen vorschrei­ben zu lassen, wie ich mich verhal­ten soll und was für Musik ich hören darf.

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4 Kommentare

  1. Tija, ein echt cooler Typ. Was meinte der denn mit der falschen Gegend?
    Aro, warum hast Du dem Typ seine Weiter­ent­wick­lung verwei­gert? Du hättest ihm ja erklä­ren können, daß er etwas versäumt hat.

  2. Ich muss mich meinem Vorred­ner anschlie­ßen: ein “Mach dich kundig!” oder so während des Fens­ter­schlie­ßens wäre hilf­rei­cher gewe­sen als ein “Tschüss!”
    Jetzt kann (sich) der Typ sagen: “Ich hab einen Nazi zur Rede gestellt, leider war der zu arro­gant, um mit mir zu reden.”. :)

  3. Ich muß an dieser Stelle ARO beipflich­ten. Wenn man mit der Zeit einen gewis­sen Stand der Erkennt­nis erreicht, der es einem erlaubt zu konsta­tie­ren, daß der Versuch des Umsto­ßens einge­fleisch­ter Ideo­lo­gien keinen Sinn hat, muß man sich auch nicht mehr mit jedem Daher­ge­lau­fe­nen ausein­an­der­set­zen. Das bringt ganz einfach nichts, weil der Betrof­fene gar nicht will. Er muß seine Erfah­run­gen selbst machen. Das ist genau wie bei klei­nen Kindern. Denen kannst du hundert­mal sagen: “Häng dich nicht an die Schub­la­den!” Das nützt gar nichts. Sie müssen tatsäch­lich erst die Gabel im Fuß stecken haben um zu begrei­fen.

  4. Ich bin mir sicher, dass der Kollege gar nicht so unwis­send war. Sein ganzes Auftre­ten machte klar, dass er keinen Wider­spruch duldete.
    Wenn jemand wirk­lich offen für Argu­mente ist, dann bin ich auch bereit zu disku­tie­ren — und meine Meinung ggf. auch infrage zu stel­len.
    Aber gegen ideo­lo­gi­schen Funda­men­ta­lis­mus disku­tiere ich nicht mehr an.
    Wegen solcher Leute: (Kommen­tar wegen Bösar­tig­keit gelöscht)
    Übri­gens war das Thema Böhse Onkelz in der Antifa immer auch umstrit­ten.

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