Altglienicke im bürgerlichen Wind

Als in Altglie­ni­cke der S‑Bahn-Zug weg ist, mit dem ich vom oberen Kurfürs­ten­damm gekom­men bin, bin ich auf dem Bahn­steig allein, abge­se­hen von den Autos, die — dicht an dicht — paral­lel zur Bahn über die Straße Am Seegra­ben, diese idyl­lisch benannte und ihren Namen enttäu­schende Ausfall­straße, berlin-ein- und ausfal­len. Eine kurze Zeit fühle ich mich drau­ßen, verlas­sen, als ob ich mich im Wege geirrt hätte. Ich muss mich verge­wis­sern, warum ich hier bin. Ich scheine eine Begrün­dung zu brau­chen.
Ich steige die Treppe hinauf zu der Fußgän­ger­brü­cke, die Bahn und Straße über­brückt und Altglie­ni­cke mit Falken­berg verbin­det, jetzt ein kurzes Stück nach links, am Ende des Über­we­ges eine knappe Biege, um in Nu hat sich die Gegend verfes­tigt und zu einem eige­nen Charak­ter zusam­men­ge­schlos­sen. Ob es Berlin ist, weiß ich noch nicht, es ist Altglie­ni­cke, Germa­nen­straße. Es kommen noch die Sach­sen­straße, Heru­ler­straße, Alemannen‑, Semnonen‑, Goten‑, Teutonen‑, Cimbern‑, Normannen‑, Makromannen‑, Sueven­straße. Ich kann mir schon denken, warum man Anfang des [vori­gen] Jahr­hun­derts, nach­dem man die Wasser­ver­sor­gung hatte, hier Stra­ßen nach den germa­ni­schen Stäm­men genannt hat und zwischen­durch die Preu­ßen­straße: Welt­macht­ac­ces­soires, als es schon heftig knarrte im Gebälk: Nur noch ein paar Jahre bis zum ersten Welt­krieg, zu dem auch die deut­schen Arbei­ter nicht Nein sagten. Die fran­zö­si­schen wären viel­leicht bereit gewe­sen.
Während ich — nach­dem ich durch die Straße “Im Winkel” hindurch und an der Kirche mit dem eng tail­lier­ten Zwie­bel­turm vorbei bei — nun west­wärts durch die Preu­ßen­straße meinem Ziel entge­gen gehe, sehe ich den Wasser­turm von 1906 vor mir und kann mir meine Gedan­ken machen über den Beginn der tech­ni­schen Moderne, die baulich so auf Verklä­rung aus war: ein Wasser­turm wie ein Berg­fried.
Das Spazie­ren­ge­hen in ruhi­gen Gegen­den hat etwas Träu­me­ri­sches, die Gedan­ken suchen sich eigene Wege und stel­len imagi­näre Fragen. Was hat wohl Hermann Muthe­sius über den Wasser­turm von Hein­rich Sche­ven gedacht: Hermann Muthe­sius, der berühmte, viel­be­schäf­tigte, war einer der drei Archi­tek­ten der Preu­ßen­sied­lung, die ich jetzt zu betrach­ten beginne, zwischen Preu­ßen- und Germa­nen­straße, nahe der Sueven­straße, 1911 bis 1914. Hier in Altglie­ni­cke — kann man das sagen? — ist einer der Geburts­orte der Reihen­haus­sied­lun­gen, der Häus­chen für jeder­mann und seine Ehefrau?

Als Muthe­sius hier stand, gerade aus England zurück, wo er sich als Botschafts­an­ge­hö­ri­ger Anre­gun­gen geholt hatte, und den Wind spürte, der von Westen hier meis­tens über die Höhe weht, hat er — denke ich mir, aber es stimmt nicht — seinen berühm­ten Satz erfun­den: “Der Wind, der heute über unsere Kultur weht, ist bürger­lich”, eine Fabrik­halle in Neuba­bels­berg hatte er schon fertig, auch einige präch­tige Villen in Zehlen­dorf, die er Land­häu­ser nannte.
Die Idee war, diese Land­häu­ser derer, die es hatten, auf immer klei­nere Propor­tio­nen einzu­damp­fen, dass hinter­her neben den Villen nur noch kleine Reihen­häu­ser übrig blie­ben, die kein Bild der Stadt mehr zulas­sen; die Menschen wohnen in Stadt­land­schaf­ten, in denen sie Farben brau­chen, um sich zurecht­zu­fin­den, aber sie können sagen: My home ist my castle, wie zuvor nur der Fürst, mit dem sie sich nun gemein fühlen dürfen. Dann wird er rufen: Volk, ans Gewehr! und sie werden denken, dass es ihre Gewehre sind und ihre Inter­es­sen, für die sie sie abschie­ßen.
Die Preu­ßen­sied­lung ist verfal­len, stark reno­vie­rungs­be­dürf­tig. Die Mieter beschwe­ren sich viel­leicht schon. Aber sie ist ein Geburts­ort der Moderne. Sie ist aus Ideo­lo­gie entstan­den; man kann auch sagen: aus gutem Willen. Länd­li­che Erin­ne­run­gen für die Indus­trie­ar­bei­ter. Dicht an dicht in klei­nen Wohnun­gen, aber nicht in Miets­ka­ser­nen. Archi­tek­ten: Hermann Muthe­sius (2. Bauab­schnitt), Max Bel und Franz Clement (1. Bauab­schnitt), Bauherr: Land­wohn­stät­ten-GmbH in Altgli­en­sche bei Grünau.
Es gibt Leute, die hier schon in der drit­ten Gene­ra­tion wohnen, habe ich gehört. Getrof­fen habe ich nieman­den, der mir’s erzählt hätte. Der hölzerne Turm, den Bel und Clement an Nummer 84 anbau­ten, um das Haus der Verwal­tung zu beto­nen, verfällt.
Das Gemein­same ist in der Indi­vi­dua­li­tät unter­ge­gan­gen, jeder hat sich selbst der Nächste sein müssen. Auch ästhe­tisch steht sich schnell jeder jeder­zeit selbst am nächs­ten. Die Sied­lung konser­viert eine zwei­fel­hafte Idee. Sie wider­spricht der Stadt. Altglie­ni­cke ist in seiner sons­ti­gen Eigen­heim­lich­keit mehr Berlin als hier, wo es einen ideo­lo­gi­schen Auftrag zu erfül­len versucht.
Die Preu­ßen­sied­lung ist auch nicht anders als der goti­sche Wasser­turm, der wie ein Riesen­spiel­zeug aus dem Märchen aussieht und nicht sein will, was er ist.
Ich gehe die Germa­nen­straße weiter nach Osten. Manch­mal bellen die Hunde. Menschen treffe ich erst wieder an der Wenden­straße. Bauar­bei­ter.
Wo die Germa­nen­straße vom Hügel hinab­führt, über­rascht dort ein Hoch­bau, der von grauen Planen umhüllt ist. Er wirkt fremd. Am Germa­nen­platz steht eine nagel­neue Vorstadt­villa, vor der die Putten die Scha­len balan­cie­ren. Der Platz neigt sich zur Grünauer Straße hinun­ter. Dort hat die Gegend den klas­si­schen Vorstadt-Charak­ter, klei­nere und größere Häuser; auch — wie ich aus dem 163er sehe, mit dem ich nun nach Grünau fahre — eben fertig werdende Ensem­bles von Eigen­tums­woh­nun­gen. Eigen­tum für die “brei­ten Schich­ten”, das war angeb­lich die Idee es Wohnungs­ei­gen­tums­ge­set­zes, ein geis­ti­ges Modell der 50er Jahre. Rech­ter Hand — ehe ich beim S‑Bahnhof Grünau aussteige — erkenne ich das erneu­erte Taut­sche Bunt der Tusch­kas­ten­sied­lung.
Ich weiß nicht, ob ich den Wind, der über den Bahn­steig Grünau weht und micht frös­teln lässt, bürger­lich nennen soll. Ich glaube, es ist einfach nur der Wind. West­wind.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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