Lehrerinnen

Die Stadt wird immer größer. Berlin wächst. Je mehr man von Berlin kennt, umso größer wird die Stadt. Die Stadt nimmt eine anti­the­ti­sche (oder soll ich sagen: eine dialo­gi­sche) Gestalt an. Sie fängt an, mit sich selbst zu spre­chen (bis man sich sagt: Was für ein Unsinn; die Stadt führt keine Selbst­ge­sprä­che; sie spricht mit mir, viel­mehr: ich spre­che mit mir).
Ich erfahre die Ausdeh­nung, die räum­li­che Erstre­ckung Berlins und zugleich ihre geis­tige … nein, “geis­tig” will ich nicht sagen. Das klingt nach Thomas Mann: Lübeck als geis­tige Lebens­form. So eine Form war Lübeck nicht und ist nicht mal Berlin. “Erfah­rung” — das ist das Wort.
An diesem Montag bin ich zuerst mit der S4, ein Stück mit der S45 nach Altglie­ni­cke gefah­ren, die soge­nannte Preu­ßen­sied­lung zu besich­ti­gen, von Muthe­sius: Ein Geburts­ort der Sied­lungs­mo­derne (habe ich im vori­gen Kapi­tel gerade beschrie­ben); dann ein Stück zurück (in der ideel­len Wirk­lich­keit war das ein Stück voran), mit der S4 bis Schön­hau­ser Allee.
Ich freue mich schon auf den Zeit­punkt, zu dem die Ring­bahn ihren Ring wieder geschlos­sen hat. Aber jetzt — während ich die Schön­hau­ser Allee nord­wärts, durch die Roden­berg- und schließ­lich die Varn­ha­gen­straße pankow­wärts gehe — habe ich ein “Ring­ge­fühl”. Berlin hält sich zusam­men, wird zusam­men­ge­hal­ten: Von der S‑Bahn und von den großen Stra­ßen, die James Ludolf Hobrecht, der eigent­li­che Erbauer der Metro­pole, um die City herum gelegt hat. Hier die Wisbyer Straße.
Ich stehe auf der Grenze zwischen Prenz­lauer Berg und Pankow, empfinde aber nichts von Grenze. In der Wirk­lich­keit der Sicht­bar­keit und der Senti­ments gibt es die Bezirks­gren­zen nur ganz selten (und wenn es die Mauer nicht gege­ben hätte, gäbe es sie noch selte­ner).
Die DeGeWo reno­viert ihre Wohn­an­lage nörd­lich des Humann­plat­zes, sie wird sich aus ihrer ange­schwärz­ten Gegen­wart in eine erin­ne­rungs­wür­dige Zukunft erhe­ben — oder soll ich es umge­kehrt sagen? — ihre Vergan­gen­heit wird gegen­wär­tig werden.

Ich blicke — kann’s sagen, weil ich es weiß, von der gepunk­te­ten Rotli­nie über den Stadt­plan — nach Pankow. Die Varn­ha­gen­straße mit der brei­ten Kirche der Heili­gen Fami­lie im Hinter­grund läuft genau auf die Wohn­an­lage zu, die sich hier, im südli­chen Pankow, zwischen Wisbyer Straße, Koska‑, Tal- und Spie­ker­mann­straße erstreckt. Die Max-Koska-Straße, die sozu­sa­gen die Varn­ha­gen­straße aus Prenz­lauer Berg nach Pankow verlän­gert, heißt nach Max Koska, der, ein hoher Minis­te­ri­al­be­am­ter, als Vorsit­zen­der des Beam­ten-Wohnungs-Vereins diese Wohn­an­lage in Auftrag gab.
Man nennt sie die Wohn­an­lage Pankow I und Pankow III, der Archi­tekt war Paul Mebes, der manchen von den bauli­chen Klei­dern geschnei­dert hat, die Berlin noch immer trägt. Er hat hier auch städ­te­bau­lich gut gewusst, was er tat. Er war ein soli­der Mann, pflegte eine Hand­wer­ker­ge­sin­nung. “Beschei­den­heit, Sach­lich­keit, Schön­heit.” Anstän­dig. Das Haus, das gerade in der Verlän­ge­rung der Varn­ha­gen­straße steht, wenn sie sich wirk­lich über die tram­ge­teilte Wisbyer Straße verlän­gern ließe, steht in den Kata­lo­gen als “Lehre­rin­nen­wohn­heim”.
Tritt man näher und betrach­tet die brau­nen Terra­kot­ten genauer, die man von Weitem nur als ästhe­tisch zurück­hal­ten­den Farb­schmuck wahr­nimmt, dann sieht man auch — ich jeden­falls erkenne es an den tradi­tio­nel­len Frisu­ren — Lehre­rin­nen, die ihre Köpfe aus dem ocker­wei­ßen Putz heraus­stre­cken. Lehre­rin­nen von 1910 natür­lich.
Heute gibt es ja keine Frau­en­ge­sich­ter mehr, die man ohne Zögern Lehre­rin­nen-Geisch­ter nennen würde. Der Beruf hat sich aus der Töch­ter­haf­tig­keit entfernt, die es vor dem Ersten Welt­krieg noch als fort­schritt­lich erschei­nen ließ, ein Haus — wie dieses hier über U‑förmigen Gruß­riss — zu bauen für allein­ste­hende berufs­tä­tige Frauen, mit Gemein­schafts­re­stau­rant und Gemein­schafts­räu­men.
Dieses “Lehre­rin­nen­wohn­heim” ist umge­ben von zwei Wohn­blocks, die es mit elegant-geschwun­ge­nen Fassa­den archi­tek­to­nisch umar­men, um mit ihm und einem halb­ho­hen Abschluss­bau zur Spie­ker­mann­straße einen Hof mit Kinder­spiel­platz zu bilden.
Ich bin jetzt von Zuhause am oberen Kurfürs­ten­damm über Altglie­ni­cke hier­her nach Südpan­kow fast vier Stun­den unter­wegs, “Nur vier Stun­den”, denke ich, während ich tiefer hinein­wan­dere nach Pankow und noch andere betrach­tungs­wür­dige Anla­gen des Berli­ner Wohnungs­baus passiere, z.B. Erwin Gutkinds nach oben, zu den fehlen­den Dach­gär­ten hin, fabrik­ar­tig aufstei­gende Anlage aus der Mitte der 20er Jahre, Ecke Tal-/Thu­le­straße.
“Nur” vier Stun­den — denn dieser Vormit­tag ist eine Lehr­stunde gewor­den über die Versu­che, baulich, “häus­lich” in der Stadt auch dieje­ni­gen heimisch zu machen, die die “Masse Mensch” bilden, aus der die Metro­pole heraus­wächst und auf die sie auch zwei­mal herab­ge­fal­len ist. Muthe­sius und Mebes.

Preu­ßen­sied­lung, Lehre­rin­nen­wohn­heim: diese Bauwerke sind eindrucks­volle Beispiele, Exem­pel, sagen wir doch: Lehre­rin­nen der Städ­tisch­keit, fast zur glei­chen Zeit entstan­den, wenige Jahre vor dem ersten Welt­krieg. In einem geschicht­li­chen Augen­blick, als noch Zeit gewe­sen wäre, sich von den Welt­zer­stö­run­gen zurück­zu­hal­ten, gaben diese stei­ner­nen Lehre­rin­nen ihre Meinung ab über das Wie: wenigs­tens über einen Aspekt des Wie der Bewah­rung.
Drau­ßen oder drin­nen, Garten­stadt, Land­schaft oder Fassa­den­auf­tür­mun­gen, besten‑, aber auch mögli­chen­falls um einen gärt­ne­ri­schen Innen­hof. Ich bin auf der Seite von Mebes. Ich höre die Tram, die Autos, meinet­we­gen den Lärm der Magis­trale, den Vogel­ge­sang lasse ich mir für sonn­tags.
Stadt ist drin­nen, inner­halb des Ringes. Die Geschichte liegt unter der Gegen­wart der Stadt wie die Wurzeln der Plata­nen, die in der Thule­straße das Pflas­ter anhe­ben. “Gehweg­schä­den”, Lebens­schä­den.
Wohin führen die Wege? 1938 baute Mebes für Kano­nen-Krupp die Berli­ner Verwal­tung in der Tier­gar­ten­straße, “tradi­tio­nell-reprä­sen­ta­tiv”. Die Häuser sagen schließ­lich nichts über den Charak­ter der Menschen darin. Die einen sagen Ja, die ande­ren sagen Nein, die einen sind Täter, die andern Opfer, viele das eine und das andere, andere viele weder dies noch das. In der Trel­le­bor­ger Straße, in einem der Wohn­blocks hier, über die sich auch städ­te­bau­lich reden ließe, in der Nummer 26, wohn­ten die Saef­kows. Wider­stand, Tod. Am Haus eine Antifa-Tafel. Was müsste man anschrei­ben, wenn man den Leuten sagen wollte: Tut nichts Böses, lasst euch nichts Böses tun? Seid recht­zei­tig? Ich friere. Ich bin jetzt doch zu lange unter­wegs.
An der Vine­ta­straße steige ich ab zur U2, die — bis ich sie am Gleis­drei­eck verlasse — die Ober- und Unter­welt lebhaft wech­selt.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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