
Nach Tegel soll man am besten vom Oranienburger Tor an zu Fuß gehen.
Das ist der Vorschlag von Fontane; wer ihn heute befolgte, der gewönne einen tiefen Eindruck davon, wie sich in anderthalb Jahrhunderten Berlin verändert hat zu dem, was eigentlich Berlin ist und zu Fontanes oder gar der Brüder Humboldt Zeiten noch gar nicht Berlin war. Mit einer solchen Bemerkung hätten wir uns dann verraten; als solche, denen die Gegenwart das eigentlich Wirkliche und das Vergangene nur das Vorspiel der Gegenwart ist. So weit kommt es aber an diesem Sonntag nicht. Denn wir gehen natürlich nicht zu Fuß. Sondern nehmen die U‑Bahn, die aus der mittigsten Mitte Berlins gerade mal 20 Minuten bis Alt-Tegel braucht.
Die vielen Alt-Straßen in Berlin sind oft überhaupt nicht alt. Und auch Alt-Tegel ist aktuellstes Berlin, obwohl sich die Straße gegen den See hin um die Kirche zu einem typischen Berliner Alt-Arrangement verdichtet. Lokale, Ristorantes, Bistros, Eisdielen, angenehme Bewirtungsorte für viele Geschmäcker, wenn auch alles mit einem leichten Döner- und Fast-Food-Duft überzogen, der andererseits jedermann schnell ein populäres Zugehörigkeitsgefühl vermittelt. Diese Stadtgegend ist was für Sonntag. Am Sonntag ist es hier bei schönem Wetter lebhafter als werktags, denn — wie gesagt — es geht zum See und zu den Schiffen. Am Greenwichufer sitzen wir auf einer Bank, beobachten die ankommenden, abfahrenden Pleasure-Boats, blicken nach Hasel- und Reiherwerder hinüber und “gucken Menschen”, wie L., meine Lebensfreundin, sagt, während wir das bunte Eis verdauen, mit dem wir im Eiscafé oben diesen Tegeler Sonntag-Nachmittag angefangen haben.
Diesen Platz, an dem wir unseren Sonntag ganz befriedigt verbringen könnten, hatte Fontane allerdings gar nicht gemeint mit seiner in den Sommerwind geschlagenen Wanderempfehlung. Ihm ging es um die Tegeler Adresse, die bis heutigen Tags in so vielfachen — wie man so sagt — geistigen Zusammenhängen vorkommt, dass man ihre Heutigkeit schon kaum noch zum Vergleich braucht: Schloss Tegel, Wohn- und Verwesungsort der Brüder Humboldt. Dort sind wir freilich schnell; über die hochgestellte, rotgeländerte Hafenbrücke in die Gabrielenstraße, die — nach Wilhelm von Humboldts Tochter Nr. 2 benannt — ein konzentriertes Villenviertel durchläuft, bis zur Adelheidallee — nach Humboldts Tochter Nr. 3 benannt -, die von der schwesterlichen Straße abzweigt und direkt vor den Schlosseingang führt.
Das Schloss, ein Schlösschen, aber in seiner viertürmigen Gestalt (seit 1822) von Schinkel: Klassik aus Renaissance, liegt hinter einem weiß lackierten Staketenzaun. Und wer nun wirklich dieses Ziels wegen gekommen sein sollte, der hätte morgen kommen sollen. Dieser Teil Tegels ist nichts für Sonntage, sondern nur für Montage: “Schloss Tegel / Privatbesitz / Kein Durchgang zum Tegeler See / Führungen nur Montag 10–12, 15–17 / Zutritt nur mit Eintrittskarte / Im Winter geschlossen / Hunde bitte an der Leine führen / Fotografieren zu gewerblichen Zwecken verboten.”
“Wir gehen einfach rein!”, sagt L., denn ich wollte eigentlich die Lindenallee entlang durch den Park zu der eigenartigen Begräbnisstätte der weltberühmten Brüder gehen, um im Angesicht der hohen Stele, auf der die Hoffnung steht, über die Rolle nachzudenken, die Wilhelm von Humboldt, der so viel in seinem Leben begonnen und so wenig wirklich vollendet, aber so vieles beeinflusst hat, und die Alexander von Humboldt, der alles, was er begann, nicht nur vollendete, sondern zu Endgültigkeit erhob, für jetzt und für mich spielen.
Das Hotel unten am See preist seinen Humboldt-Saal; die dem Schloss benachbarte, jetzt ganz postmoderne alte Mühle heißt Büro- und Congress-Centrum Humboldt-Mühle; nach keinem anderen Menschen sind am Himmel und auf der Erde, vor allem in Amerika, so viele Orte und Örtlichkeiten benannt wie nach Alexander von Humboldt. Goethe, Schiller und daneben der “dritte Klassiker der deutschen Geistesgeschichte”: da ist Wilhelm von Humboldt, der ältere der Brüder, gemeint. Die letzten 15 Jahre seines Lebens hat er fast nur in diesem Schlösschen hier draußen gelebt. Goethes Haus am Frauenplan in Weimar, vielleicht noch sein Gartenhaus an der Ilm und dieses Schloss hier: deutsche Zentralorte, gewiss.
Aber warum? Es ist Sonntag, dieser Teil der deutschen Geschichte ist geschlossen, er gehört in seiner Gegenwärtigkeit einigen, nicht uns allen. Dass das Schloss da ist, sehen wir von unserem noch zur Öffentlichkeit gehörenden Platz vor dem Zaun. Was es enthält — wir wissen es — sind Restreliquien, nicht mal ein richtiges Museum: das wird von dem Verbotsschild in seiner symbolischen Bedeutung voll aufgewogen. Wir bleiben draußen. Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit. Alexander von Humboldt, der Weltreisende, der Naturforscher, glaubte nicht an ein Jenseits. “Alexander glaubt”, sagte Wilhelm dort hinten in dem Zimmerchen, am 8. April 1835 bei sinkender Sonne, etwas ängstlich, denn es war seine Todesstunde: “Alexander glaubt, dass wir selbst nach dem Tode nicht mehr von der ewigen Weltordnung erfahren werden” … als wir auf dem weißen Gipfel des Cimborazo schon erfahren haben: vielleicht hätte Alexander das angefügt. Alexander sagte in seiner Todesstunde zu seiner Nichte Gabriele gar nichts.
Hinterher ärgerten sich die Verwandten, dass er den größten Teil seines Vermögens, einschließlich der berühmten Bibliothek, die später in Amerika verbrannte, seinem ehemaligen Diener hinterlassen hatte. Es gibt ein Foto von Alexander von Humboldt, ja ja: ein Foto, aus dem Jahre 1847; darauf sieht man natürlich sein auch in hohem Alter noch einigermaßen dichtes weißes Haar; auf dem Foto sieht es ungepflegter aus als auf dem schönen Bild von Julius Schrader im Metropolitan Museum of Art in New York, das die ganze Woche geöffnet ist. Ich denke vor dem weißen Privatzaun der Erben an dieses weiße Haar, das früher wohl schwarz oder schwarzbraun war. Denn eine Strähne davon, nicht so schön schlohweiß, sondern etwas grauer und schütterer, stammt von meinem eigenen Vater.
Es war schon Krieg, er war selten daheim; aber dann spielte er — wenn ich morgens in das Ehebett zu meinen Eltern hatte kriechen dürfen — wieder das Spiel, das er im Vorkrieg erfunden hatte, weil es ihm erlaubte, mich zu beschäftigen und doch selbst ein bisschen weiter zu dösen. Es hieß: Die Fahrt nach Rio de Janeiro. Meistens überstand das aus seinen Knien gebildete Schiff die Gefahren des Ozeans nicht. Aber manchmal kamen wir doch an. Nun mussten wir durch die Urwälder des Amazonas, die Papageien riefen und sprachen in Sprachen von Indiostämmen, die längst untergegangen waren. Es wäre mir ganz unmöglich gewesen, den Weg zu finden, wenn nicht ab und zu, an einer Palme oder Araukarie, ein kleiner Zettel angeheftet gewesen wäre mit einem Richtungspfeil: “Für das Dietherchen. Hier musst du entlang! Dein Alexander.”
Wem in seiner Jugend solche Meldungen von Alexander von Humboldt zugegangen sind, was sollte dem — nun selbst an den Marken seiner Zeit — wohl in einem Schlösschen noch Wesentliches mitgeteilt werden können?
Falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, solche Erfahrungen aber nicht haben, kommen Sie nach Tegel doch lieber montags.
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