Dort entlang! Dein Alexander

Nach Tegel soll man am besten vom Orani­en­bur­ger Tor an zu Fuß gehen.
Das ist der Vorschlag von Fontane; wer ihn heute befolgte, der gewönne einen tiefen Eindruck davon, wie sich in andert­halb Jahr­hun­der­ten Berlin verän­dert hat zu dem, was eigent­lich Berlin ist und zu Fonta­nes oder gar der Brüder Humboldt Zeiten noch gar nicht Berlin war. Mit einer solchen Bemer­kung hätten wir uns dann verra­ten; als solche, denen die Gegen­wart das eigent­lich Wirk­li­che und das Vergan­gene nur das Vorspiel der Gegen­wart ist. So weit kommt es aber an diesem Sonn­tag nicht. Denn wir gehen natür­lich nicht zu Fuß. Sondern nehmen die U‑Bahn, die aus der mittigs­ten Mitte Berlins gerade mal 20 Minu­ten bis Alt-Tegel braucht.

Die vielen Alt-Stra­ßen in Berlin sind oft über­haupt nicht alt. Und auch Alt-Tegel ist aktu­ells­tes Berlin, obwohl sich die Straße gegen den See hin um die Kirche zu einem typi­schen Berli­ner Alt-Arran­ge­ment verdich­tet. Lokale, Ristor­an­tes, Bistros, Eisdie­len, ange­nehme Bewir­tungs­orte für viele Geschmä­cker, wenn auch alles mit einem leich­ten Döner- und Fast-Food-Duft über­zo­gen, der ande­rer­seits jeder­mann schnell ein popu­lä­res Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl vermit­telt. Diese Stadt­ge­gend ist was für Sonn­tag. Am Sonn­tag ist es hier bei schö­nem Wetter lebhaf­ter als werk­tags, denn — wie gesagt — es geht zum See und zu den Schif­fen. Am Green­wich­ufer sitzen wir auf einer Bank, beob­ach­ten die ankom­men­den, abfah­ren­den Plea­sure-Boats, blicken nach Hasel- und Reiher­wer­der hinüber und “gucken Menschen”, wie L., meine Lebens­freun­din, sagt, während wir das bunte Eis verdauen, mit dem wir im Eiscafé oben diesen Tege­ler Sonn­tag-Nach­mit­tag ange­fan­gen haben.

Diesen Platz, an dem wir unse­ren Sonn­tag ganz befrie­digt verbrin­gen könn­ten, hatte Fontane aller­dings gar nicht gemeint mit seiner in den Sommer­wind geschla­ge­nen Wander­emp­feh­lung. Ihm ging es um die Tege­ler Adresse, die bis heuti­gen Tags in so viel­fa­chen — wie man so sagt — geis­ti­gen Zusam­men­hän­gen vorkommt, dass man ihre Heutig­keit schon kaum noch zum Vergleich braucht: Schloss Tegel, Wohn- und Verwe­sungs­ort der Brüder Humboldt. Dort sind wir frei­lich schnell; über die hoch­ge­stellte, rotge­län­derte Hafen­brü­cke in die Gabrie­len­straße, die — nach Wilhelm von Humboldts Toch­ter Nr. 2 benannt — ein konzen­trier­tes Villen­vier­tel durch­läuft, bis zur Adel­heid­al­lee — nach Humboldts Toch­ter Nr. 3 benannt -, die von der schwes­ter­li­chen Straße abzweigt und direkt vor den Schloss­ein­gang führt.

Das Schloss, ein Schlöss­chen, aber in seiner vier­tür­mi­gen Gestalt (seit 1822) von Schin­kel: Klas­sik aus Renais­sance, liegt hinter einem weiß lackier­ten Stake­ten­zaun. Und wer nun wirk­lich dieses Ziels wegen gekom­men sein sollte, der hätte morgen kommen sollen. Dieser Teil Tegels ist nichts für Sonn­tage, sondern nur für Montage: “Schloss Tegel / Privat­be­sitz / Kein Durch­gang zum Tege­ler See / Führun­gen nur Montag 10–12, 15–17 / Zutritt nur mit Eintritts­karte / Im Winter geschlos­sen / Hunde bitte an der Leine führen / Foto­gra­fie­ren zu gewerb­li­chen Zwecken verbo­ten.”

“Wir gehen einfach rein!”, sagt L., denn ich wollte eigent­lich die Linden­al­lee entlang durch den Park zu der eigen­ar­ti­gen Begräb­nis­stätte der welt­be­rühm­ten Brüder gehen, um im Ange­sicht der hohen Stele, auf der die Hoff­nung steht, über die Rolle nach­zu­den­ken, die Wilhelm von Humboldt, der so viel in seinem Leben begon­nen und so wenig wirk­lich voll­endet, aber so vieles beein­flusst hat, und die Alex­an­der von Humboldt, der alles, was er begann, nicht nur voll­endete, sondern zu Endgül­tig­keit erhob, für jetzt und für mich spie­len.

Das Hotel unten am See preist seinen Humboldt-Saal; die dem Schloss benach­barte, jetzt ganz post­mo­derne alte Mühle heißt Büro- und Congress-Centrum Humboldt-Mühle; nach keinem ande­ren Menschen sind am Himmel und auf der Erde, vor allem in Amerika, so viele Orte und Örtlich­kei­ten benannt wie nach Alex­an­der von Humboldt. Goethe, Schil­ler und dane­ben der “dritte Klas­si­ker der deut­schen Geis­tes­ge­schichte”: da ist Wilhelm von Humboldt, der ältere der Brüder, gemeint. Die letz­ten 15 Jahre seines Lebens hat er fast nur in diesem Schlöss­chen hier drau­ßen gelebt. Goethes Haus am Frau­en­plan in Weimar, viel­leicht noch sein Garten­haus an der Ilm und dieses Schloss hier: deut­sche Zentral­orte, gewiss.

Aber warum? Es ist Sonn­tag, dieser Teil der deut­schen Geschichte ist geschlos­sen, er gehört in seiner Gegen­wär­tig­keit eini­gen, nicht uns allen. Dass das Schloss da ist, sehen wir von unse­rem noch zur Öffent­lich­keit gehö­ren­den Platz vor dem Zaun. Was es enthält — wir wissen es — sind Rest­re­li­quien, nicht mal ein rich­ti­ges Museum: das wird von dem Verbots­schild in seiner symbo­li­schen Bedeu­tung voll aufge­wo­gen. Wir blei­ben drau­ßen. Die Wirk­lich­keit ist nicht die Wahr­heit. Alex­an­der von Humboldt, der Welt­rei­sende, der Natur­for­scher, glaubte nicht an ein Jenseits. “Alex­an­der glaubt”, sagte Wilhelm dort hinten in dem Zimmer­chen, am 8. April 1835 bei sinken­der Sonne, etwas ängst­lich, denn es war seine Todes­stunde: “Alex­an­der glaubt, dass wir selbst nach dem Tode nicht mehr von der ewigen Welt­ord­nung erfah­ren werden” … als wir auf dem weißen Gipfel des Cimbo­razo schon erfah­ren haben: viel­leicht hätte Alex­an­der das ange­fügt. Alex­an­der sagte in seiner Todes­stunde zu seiner Nichte Gabriele gar nichts.

Hinter­her ärger­ten sich die Verwand­ten, dass er den größ­ten Teil seines Vermö­gens, einschließ­lich der berühm­ten Biblio­thek, die später in Amerika verbrannte, seinem ehema­li­gen Diener hinter­las­sen hatte. Es gibt ein Foto von Alex­an­der von Humboldt, ja ja: ein Foto, aus dem Jahre 1847; darauf sieht man natür­lich sein auch in hohem Alter noch eini­ger­ma­ßen dich­tes weißes Haar; auf dem Foto sieht es unge­pfleg­ter aus als auf dem schö­nen Bild von Julius Schr­a­der im Metro­po­li­tan Museum of Art in New York, das die ganze Woche geöff­net ist. Ich denke vor dem weißen Privat­zaun der Erben an dieses weiße Haar, das früher wohl schwarz oder schwarz­braun war. Denn eine Strähne davon, nicht so schön schloh­weiß, sondern etwas grauer und schüt­te­rer, stammt von meinem eige­nen Vater.

Es war schon Krieg, er war selten daheim; aber dann spielte er — wenn ich morgens in das Ehebett zu meinen Eltern hatte krie­chen dürfen — wieder das Spiel, das er im Vorkrieg erfun­den hatte, weil es ihm erlaubte, mich zu beschäf­ti­gen und doch selbst ein biss­chen weiter zu dösen. Es hieß: Die Fahrt nach Rio de Janeiro. Meis­tens über­stand das aus seinen Knien gebil­dete Schiff die Gefah­ren des Ozeans nicht. Aber manch­mal kamen wir doch an. Nun muss­ten wir durch die Urwäl­der des Amazo­nas, die Papa­geien riefen und spra­chen in Spra­chen von Indio­stäm­men, die längst unter­ge­gan­gen waren. Es wäre mir ganz unmög­lich gewe­sen, den Weg zu finden, wenn nicht ab und zu, an einer Palme oder Arau­ka­rie, ein klei­ner Zettel ange­hef­tet gewe­sen wäre mit einem Rich­tungs­pfeil: “Für das Diet­her­chen. Hier musst du entlang! Dein Alex­an­der.”

Wem in seiner Jugend solche Meldun­gen von Alex­an­der von Humboldt zuge­gan­gen sind, was sollte dem — nun selbst an den Marken seiner Zeit — wohl in einem Schlöss­chen noch Wesent­li­ches mitge­teilt werden können?
Falls Sie, liebe Lese­rin, lieber Leser, solche Erfah­run­gen aber nicht haben, kommen Sie nach Tegel doch lieber montags.

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