
Die U2 ist eines der interessantesten Verkehrsmittel Berlins. Aufs erste ist es ist nur eine U‑Bahn‑, manchmal eine Hochbahnstrecke. Das Interessante ist nicht die Bahn selbst (obwohl sie sich für Berlin-Anfänger auch alleine lohnt für ein Hin und Her mitten über und unter der Hauptstadt hindurch in 45 Minuten), sondern die Gegenden, in die sie uns bringt. Wer an der Station Theodor-Heuss-Platz aussteigt und an der Station Neu-Westend wieder einsteigt, der hat für den Stadtspaziergang, den er nun vielleicht unternimmt, nur 2 U‑Bahn-Minuten verbraucht. Für den Spaziergang braucht er anderthalb Stunden, von denen er aber einen guten Teil auf einer Bank am Branitzer Platz verbringen wird, im Schatten der hohen Kastanien, wenn es ein Sommertag ist wie gestern, als ich unterm Strohhut hier saß und die Westender Gedanken zu ordnen versuchte, die nicht alle unter der Decke der sommerlichen Gegenwart zu halten waren. Ein Wohnzimmerplatz — wie etwa der Boxhagener Platz in Friedrichshain, ein Kiezplatz, auf den sich das Leben fortsetzt aus dem umliegenden Quartier — ist der Branitzer Platz ganz und gar nicht. Die Villen, die ihn weiträumig umstehen, sieht man durch die Bäume nur durchschimmern, edel und zurückgezogen umsäumen sie den Platz, der nur dazu da ist, ihnen Landschaft zu verschaffen. Branitz (bei Cottbus) — der Name ist ein Pseudonym für Landschaft. 1844 hat dort für den grünen Fürsten Pückler-Muskau der Architekt Gottfried Semper den englischen Landschaftspark errichtet, von dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch diejenigen schwärmten, denen für die Wirklichkeit die Prominenz fehlte.
Das ältere Ehepaar, das in der Platzmitte seine Liegen aufgestellt hat, um — das sieht man ihrem Hautbraun an — nicht zum ersten Mal den Versuch zu machen, ihrer Erscheinung eine Jugend zurückzuführen, die man auf diese Weise am wenigsten gewinnen kann, ist kein Villenbesitzerehepaar. Längst sind um den Branitzer Platz nicht alle Villen mehr Villen. Eine Studentin auf dem Nachhauseweg lagert ein Weilchen im Schatten. Der Platz ist ruhig; die weißen und rosafarbenen Rosen duften ein bisschen. Nördlich, um die Nussbaumallee, liegt eine andere Welt, zurückgezogen auch und nicht auf den ersten Blick erkennbar. Die alten Raucher, auf die Jagusch, der Fotograf, im Garten von Kastanienallee 37/38 zugeht, um eine Fotografiergenehmigung zu bekommen, sind leicht Verwirrte. Der weiße Zivi ist nicht zuständig:
“Fotografiern Sie nur. Ich hab Sie nicht gesehen.”
“Aber ich möchte doch nicht als Unerlaubter hier rumgehen.“
Die Zuständigen sind nicht da. Der weiße Pfleger im Nachbarhaus weiß auch nicht, wo Frau Thiele ist (Name vom Autor geändert). Das ist alles “Nussbaumgelände”. In der Nussbaumallee liegt die große, durch manchen Professoren-Namen berühmte Psychiatrische und Neurologische Klinik der FU. Als ich Richter war und als es das demütigende Rechtsinstitut der Entmündigung noch gab — solange ist es noch gar nicht fort aus der praktischen Rechtswelt und vielleicht überhaupt nur der Name — hatte ich auch manchmal mit Nussbaumleuten zu tun. Manchmal hätte ich deutlicher widersprechen sollen. Oder einfach das Grundgesetz vorzeigen. In den schönsten Gegenden wohnen Gespenster.
Westend gehört in die Lehrbücher. Dass solche Villenviertel “Kolonien” hießen wie die Kleingartenanlagen, das ist ein Thema für die Stadtsoziologie, die sich mal damit beschäftigen könnte, wie mit Wörtern Stadtbaupolitik gemacht wird. Das Lehrbuch, in das das Westend aber zunächst hineingehört, ist eines der Volkswirtschaftslehre. Schon 1824 hatte ein Kaufmann die Idee, hier Häuser für Reiche von der Stange anzubieten. Das wurde noch nichts. Aber als die deutschen, preußischen Heere erst die Dänen, dann die Österreicher besiegten und die preußische Hauptstadt Berlin mit dem Blut und den Tränen derer, die nichts davon hatten, sich zu einer europäischen Stadt zu mausern begann, da ging es — es war nun 1866 — auch hier richtig ab. Sechs Unternehmer — der Architekt Martin Gropius darunter — gründeten eine Baugesellschaft, legten die Straßen an, die auch heute noch nach den Bäumen heißen, die darinnen wachsen: 400 Landhäuser, für die, die es bezahlen konnten: “für die wohlhabenden Stände”, heißt es in der Programmschrift. Unter den Sechsen ist einer — das ist ein richtiges tief gehendes Schiff, wie man so sagt, er fährt in tiefen ökonomischen Wassern. Der Mann hieß Quistorf, der Name sagt nun nichts mehr. Aber es war einer von denen, die nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 im “Gründerfieber” eine Aktiengesellschaft nach der anderen gründeten. Bis 1873 der große Krach kam. Da war es auch mit Westend erstmal aus, die meisten Villen nicht fertig oder nicht verkaufbar: “Krachruinen”, sagten die Berliner.
Dieser Börsenkrach von 1873 — das ist also ein Thema, über das man im sanften Säuseln der Branitzer Kastanien ein bisschen nachdenken könnte. Was waren die Gründe für einen wirtschaftlichen Zusammenbruch nach einem “weltpolitischen Sieg”? Berlin war gerade Hauptstadt eines Weltreiches geworden, wie es sich einbildete, und schon machte es Konkurs? Auch wenn man nun nicht auf der Parkbank verweilte, sondern in die Bibliotheken ginge, würde es einem schwerfallen, ökonomisch ganz schlau zu werden. Ein bekannter Autor von damals sagt — gemischt mit einem kräftigen Schuss Antisemitismus — : Die “Volkswirte” waren schuld und eine Staatspolitik, die “einfach die Allmacht des Capitals und die Ohnmacht des Staates predigte”, der Liberalismus. Und die “Kriegsentschädigung” war schuld, die Frankreich in sagenhafter Höhe an Deutschland zahlte, “ein wahres Danaergeschenk”: weil es nämlich zu Bankgeschäften führte, schließlich nur zu Bankgeschäften. Die großen Fabriken Borsig, Wöhlert, Egells entließen bis zu 3/4 ihrer Arbeiter; erst Soldaten für die deutsche Weltmacht, jetzt ihre Arbeitslosen. Das war 1873, und — wie gesagt — unser edles Westend ein ganz prominentes Opfer; so prominent, dass es sogar in der Biografie eines der siegreichen Hauptbankiers, Carl Fürstenberg, vorkommt, obwohl den Bankiers doch sonst daran gelegen war, die Lage zu verharmlosen: Es sei niemals mehr so recht was geworden aus Westend, heißt es dort. Trotzdem: Am Ende der 1870er Jahre stabilisierte sich die Lage wieder. Die Krachvillen wurden zu Ende gebaut, verkauft, 1905 war die Anlage fertig, seit Ende des Jahrhunderts mit dem schönen Platz, auf dem ich jetzt geträumt habe.
Und nun zurück zum Haus Kastanienallee 37/38, wo Jagusch steht und fotografiert. Ein Beispiel für alles. 1872 gebaut, gerade für diesen beispielhaften Quistorp, für ihn selbst, mit Zierrat aus allen Stilepochen. 1905 umgebaut und erweitert für einen anderen Fabrikanten. Und — nun kommt es — 1925/1926 überarbeitet von einem Spitzenmann der Moderne: — das wissen gar nicht so viele Leute — von Erich Mendelsohn. Aber Mendelsohn wollte das selbst nicht wahrhaben; er verschwieg das Werk, dem man heute gar nichts mehr ansieht, nichts scheint daran besonders, Rotes Kreuz, wie das Rote Kreuz eben ist.
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