Da es wenig Berichte über die 20-er Jahre in Meyer’s Hof gibt, beschränkt sich das folgende Kapitel vor allem auf’s Ende der Zwanziger bis 1930. Allerdings sind die hier beschriebenen Zustände eben nicht erst zu diesem Zeitpunkt eingetreten, sondern entwickelten sich seit 1921 in diese Richtung.
Ab 1929 wurde Meyer’s Hof berühmt bzw. berüchtigt als Hochburg des „proletarischen Milieus“. Aufgrund der Wohnungsnot wurden die Wohnungen mehrfach belegt und vollgestopft. Im selben Jahr starb auch der Berliner Maler Heinrich Zille. Und obwohl er kein einziges Bild nachweislich in Meyer’s Hof gezeichnet hatte, wurde das Haus bald die „Zilleburg“ genannt. Dies hängt sicher damit zusammen, dass sich die Zeichungen bei Zille und die Zustände in Meyer’s Hof praktisch nicht voneinander unterschieden. Allein 1929 erschienen fünf größere Zeitungs-Artikel über Meyer’s Hof, alle versehen mit zahlreichen Abbildungen. Doch anders als früher galt der Komplex nun als abschreckendes Beispiel.

Die „Ackerritze“

„Die Bernauer ist eine eher langweilige Straße. Ein paar Kellerkneipen, zwei Gemüseläden, eine Litfaßsäule, mehr gibt es nicht zu sehen. Und auch die Ackerritze ist längst nicht so breit wie die Brunnenstraße, besitzt nicht so viele Geschäfte. Aber es ist seine Straße. Hier hat er seine ersten Schritte getan, kennt jeden Pflasterstein, jedes Murmelloch und jedes zweite Gesicht, das ihm entgegenkommt. Im Hauflur ist es angenehm kühl. Das ist ein Vorteil dieser Häuser, in denen man im Wnter gar nicht so schnell heizen kann, wie man friert, im Sommer wird es nie sehr heiß, wenn man nicht gerade unter’m Dach wohnt.*

Zuerst tauchte er in der Literatur bei Franz Hessel auf. In seinem Buch „Spazieren in Berlin“ beschreibt Hessel eine Wanderung von der Leipziger Straße in Richtung Norden, wobei er auch in die Ackerstraße verschlagen wird: „Durch die Ackerstraße nach dem Wedding zu. Selbst diese traurige Gegend bekommt etwas vom Weihnachtswald und bunten Markt ab. Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten Hof – sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erraten aus den Anschlägen: Apostelamt, Pumpernickelfabrik, Damen- und Burschenkonfektion, Schlosserei, Lederstanzerei, Badeanstalt, Drehrolle, Fleischerei… Und noch soundso viel Schneiderinnen, Näherinnen, Kohlenmänner, die in den endlosen, graurissigen Quergebäuden hausen.
Die Wölbungen dieser Torgänge geben dem Großstadtelend wenigstens noch ein Gesicht. Sonst ist es hier im Norden wie auch in den proletarischen Teilen von Schöneberg oder Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzusehen, wieviel Armut sie bergen. Wie die Menschen, so haben auch die Gebäude eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehen in endloser Reihe; Fenster an Fenster, kleine Balkons sind vorgeklebt, auf weichen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen. Um eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in die Hof vordringen, den traurigen ersten und den traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten, die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier oder mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet hat.“
Am 1. Mai 1929, dem sogenannten „Blutmai“, erschien dann in der „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“ (AIZ) die erste Foto-Reportage über Meyer’s Hof. In den Fotografien erkannte man krasse Bilder aus der Wirklichkeit. Der Hoffassaden-Ausschnitt zeigte die gleiche Heruntergekommenheit der Bausubstanz und ließ zum ersten Mal erkennen, dass für die Instandhaltung des Hofes nichts mehr getan wurde, seit Meyers Erben verkauft hatten.
Einige Monate später, am 5. September 1929, erschien eine zweite Fotoreportage, diesmal im „Weltspiegel“. Unter dem Titel „Die Ackerstraße 132/133 lädt zum Ball“ berichteten die beiden Journalisten von einem Hoffest, an dem sie offensichtlich teilgenommen haben. Dieses Fest fand traditionell am 4. August statt. Im Gegensatz zum AIZ-Artikel wurde nun nicht das Kaputte und Elende in der Vordergrund gestellt, sondern das „Milljöh“.

In einer Beilage berichtete die „Berliner Morgenpost“ am 31. Oktober 1929 über Meyer’s Hof: „Über Berlin kreisen Flugzeuge, unter der Erde rattern Untergrundbahnen, durch die Ackerstraße zwängen sich zweistöckige Autobusse, denen die erste Mieterin in Meyershof, Frau Minna Riedel, jetzt eine schwerhörige Greisin, noch immer etwas mißtrauisch nachsieht. Nur an dem Haus der tausend Menschen, Ackerstr. 132, hat sich nichts wesentliches verändert. Der Glanz der Mauern ist zwar verblichen, und von den Fassaden springt in großen Blättern der Putz ab. Aber noch immer steht es wie eine Burg, deren Höfe, wenn es dämmert, Burgverließen ähneln, in die ein freudloses Schicksal sonnenhungrige Großstadtkinder geworfen hat.
Hunderte gehen jeden Morgen mit frischen Augen auf den Weg zur Arbeit und kehren abends müde wieder in das Haus zurück, das selten einen Bewohner loszulassen scheint, ehe der Tod ihn abruft.
Eine jede Laune unseres vielfältigen Schicksals ist innerhalb der Wände von Meyershof erlebt worden. Mehr als 1.000 Ehen wurden geschlossen, 500 Frauen haben ihre Kinder zur Welt gebracht. Geschäftsleute sind zugrunde gegangen, und andere haben Erfolg gehabt. Im Nachbarhaus ist vor 38 Jahren die zwölfjährige Lucie Berlin von einem Lustmörder getötet worden. 150 Hausbewohner haben Meyer’s Hof im Sarg verlassen, den ihnen der Tischler im Paterre gezimmert hat. Einer hat sich erhängt, andere ließen den Gashahn offen… Eine Generation hat den Krieg mitgemacht und ist vom Sensenmann dahingemäht worden.“
In einem Interview über das Leben in Meyer’s Hof erzählte der Bewohner Harry Kopisch später: „Das große Tor war während der Arbeitszeit auf. Danach wurden das Tor und die Aufgänge abgeschlossen. In der ersten Zeit gab es extra einen Nachtwächter, da hat man noch keinen Schlüssel gehabt, den mußte man rufen. Dann kam der an und hat erstmal geguckt: Wer ist denn das, wo wollen Sie hin? Wenn man bekannt war, wurde man reingelassen. Er hatte im ersten Quergebäude im Durchgang sein Kabäuschen. Links, zum zweiten Hof hin, war eine kleine Tür mit einem Verschlag, da hat er Bett, Tisch und einen Ofen drin gehabt. Als er dann 1928 starb, folgte ihm keiner mehr nach. Vater Block, der alte Hauswart, hat das auch nicht übernommen. Eine Zeitlang haben sie das Tor dann noch zugesperrt, und jede Familie hatte ihren Schüssel, der so groß war, daß man einen Menschen damit totschlagen konnte. Aber dann hat sich kein Mensch mehr drum gekümmert, und das Tor blieb offen.“

Meyer’s Hof

„Nolle wohnt in Meyer’s Hof wie das Haus Ackerstraße 132/133 nur genannt wird. Es hat schon mehrfach den Besitzer gewechselt und gehört jetzt einem Russen namens Tumerkin. Dieser Tumerkin steckt nichts, aber auch gar nichts in das Haus, um es wenigstens ein bischen wohnlicher zu machen, will nur die Miete kassieren. Es heißt sogar, er hätte das Haus noch nie gesehen. Doch nicht wegen dieses Meyer oder Tumerkin ist das Haus so berühmt geworden, sondern wegen der sechs Hinterhöfe und der unbeschreiblichen Enge der Räume. Über zweitausend Mieter leben hier. Und dazu sind die Wohnungen noch so feucht, daß die Kinder die hier leben spotten, sie hatten Wohnungen mit fließendem Wasser – immer an den Wänden runter.“ *

*Aus dem Buch von Klaus Kordon: „Mit dem Rücken zur Wand“. Kordon, geboren 1943, hat eine „Trilogie der Wendepunkte“ geschrieben: Drei Romane, die jeweils einige Wochen 1918/19, 1933 sowie 1945 mit den Augen eines Kindes sehen, das mit seiner Familie in der Ackerstraße wohnt. Die Bücher sind sehr lehrreich und äußerst spannend geschrieben: „Die roten Matrosen“, „Mit dem Rücken zur Wand“, „Der erste Frühling“.

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