Vieles, was man auf dieser Reise sieht, hat eine lange Geschichte. Und es ist im Abschnitt “Geschichte” dieses Buches behan­delt worden, so dass es sinn­voll ist, den ersten Abschnitt des Buches schon gele­sen zu haben, bevor man die Reise durch die heutige Acker­straße beginnt.
Da es keinen U‑Bahnhof Acker­straße gibt, macht man sich auf den Weg zum Bahn­hof Rosen­tha­ler Platz (Linie U8). Von dort in die Rosen­tha­ler Straße und nach 50 Metern rechts in die Lini­en­straße abbie­gen. Dann läuft man noch zwei Minu­ten und steht auf dem Koppen­platz, auf dem der Spazier­gang durch die Acker­straße beginnt.

Der Blick entlang des Plat­zes offen­bart schon die lange und viel­schich­tige Geschichte dieses Plat­zes. Die Häuser erzäh­len eine Geschichte, aber auch der Platz selber. Im Norden streift die Lini­en­straße den Koppen­platz, die Acker­straße geht hier von ihm ab. Am südwest­li­chen Ende beginnt die Große Hambur­ger Straße, deren Geschichte ein eige­nes Buch wert wäre. Die Autos umfah­ren den recht­ecki­gen Platz, der zum großen Teil den Anwoh­nern vorbe­hal­ten bleibt. Bis 1995 war der Mittel­teil des Plat­zes zwei Meter hoch, da sich darun­ter noch der Welt­kriegs-Bunker befand. Doch mit der Neuge­stal­tung wurde der Bunker abge­ris­sen.
Gleich vornan steht ein Mahn­mal, das erst im Septem­ber 1996 einge­weiht wurde. Hier steht aus Bronze ein zu großer Tisch mit Schub­lade, dane­ben ein Stuhl mit geschwun­ge­ner Lehne und gedrech­sel­ten Beinen. Ein ande­rer Stuhl liegt auf dem Boden, so als ob er eben erst beim zu hasti­gen Aufste­hen umge­fal­len wäre. “Das Denk­mal ist für alle jüdi­schen Leute, die in dieser Stadt gelebt haben, ob sie nun Großes geleis­tet haben oder nicht”, sagt der Bild­hauer Karl Bieder­mann zu seinem Werk. Er wollte ein Symbol der Eile finden, mit der die Juden damals die Stadt verlas­sen muss­ten oder von den Nazis in die Todes­la­ger depor­tiert wurden. Das Denk­mal hat den Namen “Der verlas­sene Stuhl hinter dem leeren Tisch vor dem umge­stürz­ten Stuhl”.
Um das Denk­mal herum windet sich, in der Erde einge­las­sen, ein Text von Nelly Sachs aus ihrem Gedicht “Oh die Schorn­steine”. Einge­fasst wird das Denk­mal von sieben Bäumen, als würden sich die Stühle und der Tisch in einem Raum befin­den. In dieser Gegend stell­ten die Juden bis in die Nazi­zeit hinein einen Groß­teil der Bevöl­ke­rung — dieje­ni­gen, die nicht geflo­hen sind, wurden in der Großen Hambur­ger Straße gesam­melt und von dort aus in die KZs depor­tiert.

Der vordere Teil des Plat­zes, auf dem sich auch dieses Denk­mal befin­det, lädt zum Spazie­ren­gehn oder Ausru­hen ein. Die Alten aus dem Senio­ren­heim sitzen hier auf den Bänken, und auch die Arbei­ter von den vielen nahen Baustel­len, und auf dem Rasen sitzen Studen­ten, mit Büchern und Heftern um sich herum; junge Leute halten ihren Bauch­na­bel in die Sonne, manch­mal auch mehr.
Die zweite Hälfte aber gehört den Kindern, auch hier wurde alles neu gebaut. Die Spiel­ge­räte sind nach den Vorschlä­gen der Kinder und Jugend­li­chen ausge­sucht worden: Ein großes Holz­spiel­ge­rät mit Rutsche und Hänge­brü­cke, eine Tisch­ten­nis­platte, eine Street­ball­an­lage und ein Matsch­be­reich für die Klei­ne­ren. Und die haben gegen Mittag den Platz auch in Beschlag, wenn die Grund­schule aus ist.
Dass der Koppen­platz eine lange Geschichte hat, wissen die Jugend­li­chen nicht, die sich am Nach­mit­tag und Abend hier tref­fen. Dabei spre­chen die teil­weise noch recht verzier­ten Fassa­den auf der Ostseite des Plat­zes eine deut­li­che Spra­che. Die gren­zen direkt an ein Haus an, das aussieht, als hätten sich die Bauar­bei­ter an der Stelle geirrt, an die das Haus gebaut werden sollte. Dieses klot­zige, rote Teil, das erst ab dem zwei­ten Stock über­haupt Fens­ter hat, steht quer da, wie dazwi­schen gescho­ben. Es ist die Rück­seite eines Umspann­wer­kes, das den Eindruck macht, als wäre es zu weit in den Block hinein geplant worden. Aber selbst dieses Haus birgt noch ein Geheim­nis. Man muss sehr genau kucken, um an der klobi­gen Fassa­den unten in der Ecke den klei­nen Eingang mit dem Schild zu entde­cken, dass es hier Probe­büh­nen für Thea­ter­grup­pen gibt. Seit dem Früh­jahr 1996 werden drei Etagen des Gebäu­des für Proben genutzt, aber es finden jetzt auch öffent­li­che Vorfüh­run­gen statt. Wer sich dafür inter­es­siert, muss gut suchen.
Am südli­chen Ausgang des Koppen­plat­zes, an dem die Große Hambur­ger Straße beginnt, wurde gerade ein neues Wohn­haus gebaut. In die Fassade inte­griert ist das Grab­mal von Chris­tian Koppen, mit vier Säulen, die vor einer Inschrift stehen: “Herr Chris­tian Koppen, Raths Verwand­ter und Stadt­haupt­mann zu Berlin widmete diesen Platz und dessen Umge­bung im Jahre 1704 als Ruhe­stätte den Armen und Wahren in deren Mitte. Er selbst mit den Sein­gen ruhen wollte und ruht. Ein Andenken, dank­bar die Stadt Berlin.”
Dane­ben das von Ludwig Hoff­mann entwor­fene impo­sante Schu­ge­bäude, das heute eine Grund­schule beher­bergt. Von dort zieht sich bis zur Lini­en­straße und dann auch noch links um die Ecke ein Senio­ren-Wohn­heim hin. Der west­li­che Teil fungiert zur Zeit als Flüch­tin­gs­heim. Das Gebäude wurde bereits 1835 mit der Bestim­mung gebaut, vor allem alten Witwen ein Heim zu geben. Nun will die Lange-Schu­cke-Stif­tung das Haus über­neh­men und es moder­ni­sie­ren. Sammel­toi­let­ten auf dem Flur sollen dann der Vergan­gen­heit ange­hö­ren. Wenn die Stif­tung, die es übri­gens schon seit 105 Jahren gibt, die geplan­ten zehn Millio­nen Mark in den Komplex inves­tiert hat, werden die alten Menschen dort in klei­nen Wohn­ge­mein­schaf­ten zu je drei Perso­nen zusam­men­le­ben.
Weiter geht die Reise Rich­tung Norden, dort wo man an der großen Straße die Ampel sieht. Aber man kommt nicht weit, denn vorher beginnt gleich hinter der Lini­en­straße die Acker­straße und auf der rech­ten Seite befin­det sich das Village Voice. Dieses Cafe hat etwas beson­de­res und das merkt man schon, wenn man nur mal von außen hinein schaut. Es ist nämlich gleich­zei­tig ein Cafe und eine Buch­hand­lung. Mit der “Unab­hän­gi­gen Verlags­an­stalt Acker­straße”, der UVA, entstand das Konzept, in den Verlags­räu­men gleich­zei­tig noch Kaffee und eini­ges mehr anzu­bie­ten. Der Leser sollte das gerade gekaufte Buch bei einem Tee, Kaffee oder etwas zu essen gleich am Tisch lesen können. Doch leider hatten sich die Betrei­ber des Verlags ein biss­chen verspe­ku­liert. Sie steck­ten eine Vier­tel­mil­lion neue Deutsch­mark in die Räume, bauten zwei Schau­fens­ter und eine tolle Innen­ein­rich­tung ein, die das Flair von New York City mit dem eines Berli­ner Anti­qua­ri­ats vermischt — aber es nutzte alles nichts. Sie verkauf­ten den Laden und auch der Nach­fol­ger machte pleite.
Doch seit 1994 wird das Cafe von vier Frauen betrie­ben und hält sich eini­ger­ma­ßen über Wasser. Aller­dings könnte der Laden durch den Buch­ver­kauf allein nicht über­ste­hen, was unter ande­rem an der großen Konkur­renz in dieser Gegend liegt. So trägt er sich in erster Linie durch das Cafe, das sich zum Groß­teil auf Stamm­kund­schaft stützt. Trotz­dem hat man nicht das Gefühl, in eine “geschlos­sene Gesell­schaft” einzu­tre­ten. Der Schwer­punkt des Buch­sor­ti­ments liegt eindeu­tig bei US-ameri­ka­ni­scher Lite­ra­tur — in deut­scher und engli­scher Spra­che. Aus dem eige­nen Inter­esse für die USA wurde neben dem Laden ein Projekt entwi­ckelt, mit dem die US-Kultur bekann­ter gemacht werden sollte.
Irgend­wie wurden mal 14 ABM-Plätze ergat­tert und dieser Haufen Leute wurde dann schwer aktiv: sie orga­ni­sier­ten Veran­stal­tun­gen in Schu­len und im Cafe oder im Ameri­ka­haus in Char­lot­ten­burg. Doch die ABM-Maßnahme wurde nicht verlän­gert und ging so den Bach runter. Ein ande­res Projekt war das Filme zeigen. Für die Kinder der Umge­bung wurden am Wochen­ende Kino-Filme gespielt, und die Erwach­se­nen waren am Donners­tag dran. Das Kinder­kino gibt es leider nicht mehr, es soll aber viel­leicht wieder zum Leben erweckt werden. Na hoffent­lich. Und hoffent­lich wird sich das Buch-Cafe auch noch über das Jahr 1998 hinaus halten können, wenn neue Miet­ver­hand­lun­gen ins Haus stehen. Das Haus wurde 1937 von seinen im Haus leben­den jüdi­schen Besit­zern an eine andere Haus­be­woh­ne­rin verkauft, die Bedin­gun­gen sind unbe­kannt, aber man kann sie sich leicht vorstel­len. Wenn jüdi­sche Eigen­tü­mer zu dieser Zeit Grund­be­sitz verkauf­ten, dann stand dahin­ter meist die “Arisie­rung” deut­schen Bodens.
Völlig unklar sind die zukünf­ti­gen Eigen­tums­ver­hält­nisse und damit auch die Zukunft des Ladens. Während­des­sen kann man sich aber erst­mal am Donners­tag­abend so gegen 21 Uhr ins “Village Voice” setzen, sich mexi­ka­ni­sches Essen oder einen Milch­kaf­fee bestel­len und sich gemüt­lich einen Film anschauen — hoffent­lich noch lange.

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