“Mein Vater zog, als ich zwei Jahre alt war, mit der ganzen Fami­lie nach Berlin. Er arbei­tete ala Nacht­wäch­ter bei der Berli­ner Wach- und Schließ­ge­sell­schaft — sein ganzes Leben hindurch. Meine Groß­mutter wohnte bei uns. Meine Schwes­ter Käthe, mein Bruder Bruno und ich lieb­ten sie sehr. Zwischen meinem Vater und meiner Groß­mutter bestand immer eine große Span­nung. Sie rede­ten sich auch nur mit Sie an. Als wir etwas größer waren, brachte er sie ins Siechen­haus. Manch­mal traf ich sie am Pappel­platz bei dem schö­nen Geld­zäh­ler­brun­nen, wo die Arbeits­lo­sen immer saßen. Von der Figur sagten sie: “Der zählt, ob die Arbeits­lo­sen-Unter­stüt­zung wieder weni­ger gewor­den ist”. Meine Groß­mutter hat sich da oft ausge­ruht. Sie sammelte für mich ihre Brote. Die Marga­rine darauf war zwar meist ranzig, aber ich hatte immer großen Hunger, und es war Krieg. Das Mittag­essen schmeckte bei uns nicht beson­ders. Es war auch oft frag­lich, ob es über­haupt welches gab.”*
Der später in der DDR sehr berühmte Film-Schau­spie­ler Erwin Geschon­neck verbrachte seine Jugend im Haus Acker­straße 6/7. Wie für viele Kinder und Jugend­li­che besaß der Kiez, das “Karree”, wie man damals sagte, eine beson­dere Bedeu­tung für den jungen Erwin. Sein Freund, der Bäcker­sohn “Schwar­zer”, wohnte in der Acker­straße 14/15, ihn besuchte er oft und zog dann mit ihm durchs Karree. Schwar­zers Vater war bei der Heils­ar­mee und trug meist eine rich­tige Uniform.
“Als 1914 der erste Welt­krieg ausbrach, ging ich schon ein Jahr zur Schule, in die 1. Gemein­de­schule am Koppen­platz, ganz in der Nähe unse­rer Wohnung. Weil ich körper­lich schwach entwi­ckelt war, wurde ich zunächst ein Jahr zurück gestellt. Meine Beine waren krumm, ich hatte soge­nannte Säbel­beine von der engli­schen Krank­heit, der Bachi­tis. Auch sonst krän­kelte ich oft. Unse­rem Haus gegen­über war eine Kolo­ni­al­wa­ren-Hand­lung. Als der Besit­zer einge­zo­gen wurde, warf er alles, was er im Laden hatte, vor Begeis­te­rung auf die Straße — für die Kinder.”

Erwin kannte alle alle Häuser, den dama­li­gen Durch­gang von der Acker­straße 14/15 zur Brun­nen­straße, und natür­lich die Knei­pen und Vergnü­gungs-Einrich­tun­gen der Gegend — zum Beispiel das “Schmalz­stul­len-Thea­ter” am Rosen­tha­ler Platz, den Kris­tall­pa­last in der heuti­gen Torstraße, das “Kino Krone” am Pappel­platz, “Carows Lach­bühne” im Walhalla-Tunnel im Wein­bergs­weg und die Ball­häu­ser, in die er zwar offi­zi­ell noch nicht rein durfte, aber…

Beson­ders die “Borus­sia-Fest­säle” im Hinter­haus der Acker­str. 6/7 hatten es dem Jungen ange­tan: “Am häufigs­ten fanden am Sonn­tag im großen Fest­saal Thea­ter-Auffüh­run­gen statt. Sie wurden von Laien aus Thea­ter­ver­ei­nen veran­stal­tet. Schon am Sonn­abend brach­ten die Mitglie­der der Vereine ihre gelie­hene Thea­ter-Garde­robe in großen Wäsche­kör­ben auf Hand­wa­gen ins Haus. Es waren Post­an­ge­stellte, kleine Hand­wer­ker, Arbei­ter. Gespielt wurden meis­tens Schwänke und Operet­ten, auch Heimat­stü­cke. Nach der Vorstel­lung wurden die Stühle beiseite gestellt, und es wurde getanzt. Bei Schnaps und Bier ließen sich die ‘Schau­spie­ler’ feiern. Ach, wie habe ich sie benei­det! Durch eine Keller­tür, die nicht verschlos­sen war, konnte ich mich manch­mal heim­lich einschlei­chen.
Fast täglich, außer sonn­tags, fanden bei ‘Borus­sias’ Witwen­bälle statt. Wenn die Betrun­ke­nen nachts durch die Höfe wank­ten, gab es meist unge­heu­ren Krach und Schlä­ge­reien. Ich wachte davon immer auf. Meine große Schwes­ter Käthe nahm mich manch­mal zu solch einer Tanz­ver­an­stal­tung mit. Das waren erre­gende Augen­bli­cke für mich. Ich war unge­fähr drei­zehn Jahre alt, früh­reif wie alle Groß­stadt­kin­der. Und ab und zu durfte ich einmal mit einer Freun­din von ihr tanzen. Oft gab es kein Licht, weil die Arbei­ter der AEG streik­ten. Dann wurde bei Karbid-Beleuch­tung geschwoft. Ich fand das alles sehr roman­tisch, und wenn erst der Mond­schein­wal­zer kam, war ich ganz hinge­ris­sen.”

In den 20-er Jahren wurden die Fest­säle auch oft von der jüdi­schen Gemeinde gemie­tet. An diesen Tagen kamen dann viele ganz fein ange­zo­gene Leute über den Hof mit Anzü­gen, Krawat­ten — und einem Kissen unter dem Arm. Weil es in den Fest­sä­len nämlich zu wenig Stühle gab, brach­ten sich die Gläu­bi­gen ein Sitz­kis­sen mit!
“Das Gebäude in der Acker­straße, in dem wir wohn­ten, besaß sieben Aufgänge mit drei Höfen. Die Borus­sia-Fest­säle befan­den sich im vier­ten Quer­ge­bäude, sie spiel­ten eine nicht zu unter­schät­zende Rolle in meinen Kind­heits­freu­den. Die Fest­säle gehör­ten Herrn Uhde, einem nervö­sen und über­heb­li­chen klei­nen Mann, einem ehema­li­gen Kell­ner. Außer­dem besaß er das ganze Miets­haus. Manch­mal musste ich Herrn Uhde die Wohnungs­miete brin­gen. Wenn er nicht anwe­send war, nahm seine Frau, eine frühere Bardame, die Miete in Empfang. Sie war groß, voll­bu­sig, wasser­stoff­blond, immer im geblüm­ten Morgen­rock. Sie schielte etwas und trug ihre Haare in Papier­rol­len gewi­ckelt. Sie war recht hoch­nä­sig.
Bei Kriegs­aus­bruch wurde eine riesige Menge Stroh­bal­len in die Fest­säle gebracht. Und kurz darauf marschier­ten die ersten Soleta­ten in die Höfe und schlu­gen ihre Nacht­quar­tiere auf. Nach ein paar Tagen rück­ten sie ab, und neue kamen. Wenn sie ausmar­schier­ten, traten sie immer zum Appell an — vom drit­ten Hof bis auf die Straße. In langen Reihen stan­den sie, und laut schall­ten die Komman­dos. Ich fand das alles groß­ar­tig. In meiner Begeis­te­rung war ich einmal vom Ausmarsch einer Kompa­nie so hinge­ris­sen, dass ich nicht auf den Stra­ßen­ver­kehr achtete und unter ein fahren­des Autos geriet. Blut­über­strömt wurde ich ins Laza­rus-Kran­ken­haus in der Bernauer Straße gebracht. Eine schiefe Kinn­lade habe ich heute noch davon.”

Auch die fünf Knei­pen in der Acker­straße waren für Erwin Geschon­neck inter­es­sant. Zum Beispiel die in der Acker­straße 8, die “Quark­schließ­kneipe” von Herrn Feld­mann. Dort trafen sich der “Ring­ver­ein Mitte” und die Pfer­de­händ­ler. Natür­lich malt man sich, wenn man in solche Orte nicht hinein darf, immer alles mögli­che aus, was dort wohl an gehei­men Dingen geschieht. Und es war ja bekannt, dass die soge­nann­ten Ring­ver­eine, die es in jedem Stadt­teil gab, an vieler­lei krimi­nel­len Dingen betei­ligt waren und sich auch schnell gegen­sei­tig mobi­li­sie­ren konn­ten, wenn es mal eine größere Schlä­ge­rei gab. Und die gab es öfter. Die Pfer­de­händ­ler von Karls­horst sollen ja auch nicht so ganz astrein sein, und so wurde dem Gese­he­nen noch aller­lei weite­res aus der Phan­ta­sie dazu gemischt. So umgab die Kneipe ein wahrer Mythos.
An der Ecke Torstraße, wo heute ein Jugend­klub ist, war eine der größ­ten Knei­pen der Gegend, dort gab es mittags auch billi­ges Essen.
“Im Neben­haus gab es eine Molke­rei mit Kühen auf dem Hof. Dort habe ich oft Milch geholt, sonn­tag­nach­mit­tags, kuhwarm. In unse­rem Haus gab es auch eine Diaman­ten­schle­fe­rei. Die hatte große Schei­ben aus schwar­zem Glas. Darin konnte man sich spie­geln. Wir amüsier­ten uns mit Hampel­mann­ma­chen und Frat­zen­schnei­den. Beliebt waren Keile­reien mit Kindern aus ande­ren Stra­ßen. Es hift dann: Acker­straße gegen Elsäs­ser. Mit langen Holz­knüp­peln zogen wir los. Das waren rich­tige Feind­se­lig­kei­ten, Kriegs­spiele. Nein, fein waren wir nicht.”

Das Stet­ti­ner Karree, die Umge­bung des dama­li­gen Stet­ti­ner Bahn­hofs, die Inva­li­den­straße und auch die Acker­straße waren in den zwan­zi­ger Jahren Brut­stät­ten der Prosti­tu­tion. Der billigste Strich war hier zu Hause.
“Unter unse­rer Wohnung in der Acker­straße wohnte ein Ehepaar, und die Frau ging auf den Strich. Wir Kinder zähl­ten immer die Herren und pass­ten auf, wie lange sie sich bei der Dame des Hauses aufhiel­ten. Einmal gab es einen furcht­ba­ren Krach. Sie hatte einen Mann sehr lange bei sich. Der Ehemann kam nach Hause, und wahr­schein­lich aus Eifer­sucht ging er mit der Axt auf den Lieb­ha­ber los. Er schlug vor der Wohnungs­tür auf ihn ein. Noch Monate danach sah man einen großen Blut­fleck an der Wand im Trep­pen­flur.”
Manch­mal kamen auch Leier­kas­ten­män­ner auf den Hof in der Acker­straße 6/7, vor allem zwei hatten es Erwin ange­tan. Der eine war schon fast eine ganze Kapelle. Vor sich her schob er den Leier­kas­ten, auf dem Kopf hatte er einen Hut mit Schel­len auf, die er durch eine Kopf­be­we­gung spie­len konnte. Die Pauke auf dem Rücken schlug er mit einem Klöp­pel, den er am Ellbo­gen ange­bracht hatte. “Einer kam zu uns auf die Höfe, den wir nur Jesus nann­ten. Er hatte nämlich einen ganz langen Bart und üppi­ges Haupt­haar wie heute viele Jugend­li­che. Damals war es ganz eigen­ar­tig, wenn man solch lange Haare trug. Sein verschlis­se­nes, gefärb­tes Sack­ge­wand reichte bis auf die Erde. Er spielte nur reli­giöse Lieder. Und nach jedem Lied murmelte er unver­ständ­li­che Worte, er betete wohl. ‘Jesus’ wurde auf den Höfen in der Acker­straße viel bestaunt. Die Leute erzähl­ten von ihm, er sei wahn­sin­nig oder auch ein Millio­när.”
Der bekannte Film­re­gis­seur Rein­hold Schün­zel drehte 1920 unter ande­rem in der Acker­straße einen Kino­film mit dem Titel “Das Mädchen aus der Acker­straße”. Die Haupt­dar­stel­le­rin hieß Lilly Flohr. Dafür wurden einige Außen­auf­nah­men auf einem Hof der Nummer 9 gedreht. Der Regis­seur heuerte eine Hand­voll Kinder aus der Straße als Statis­ten an. Für den später sehr bekann­ten Schau­spie­ler Erwin Geschon­neck hätte dies die erste Rolle in einem Kino­film sein können, doch er beschwerte sich, weil er keine Lust auf die ihm zuge­dachte Rolle hatte. Und so musste er noch zwan­zig Jahre warten, bis er endlich berühmt wurde…

* Aus dem Buch von Erwin Geschon­neck: “Meine unru­hi­gen Jahre”. Geschon­neck war in der DDR einer der bekann­tes­ten Film­schau­spie­ler. Er wurde 1906 gebo­ren und verbrachte seine Kind­heit und Jugend im Seiten­flü­gel des Hauses Acker­straße 6/7. Nach Jahren des Exils wurde er von den Nazis gefan­gen genom­men, geschla­gen und gefol­tert. 1939 bis 1945 verbrachte er in verschie­de­nen Konzen­tra­ti­ons­la­gern.

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