Elsbeth B.

Als Kind muss sie eine dieser berühm­ten “Berli­ner Gören” gewe­sen sein, anders ist es gar nicht vorstell­bar. Und selbst heute noch, mit ihren 83 Jahren, sagt sie, was sie denkt und tut sie, was sie will. Dabei hat sie eine Menge Glück gehabt, vor allem in den 60-er und 70-er Jahren.
Gebo­ren wurde Elsbeth B. 1913 im Arbei­ter­be­zirk Moabit. Und dort ist sie auch aufge­wach­sen. Ihre Kind­heit war der Stephan­kiez: Am Steph­an­platz die Schule, in der Turm­straße das Schwimm­bad, in der Birken­straße die Wohnung. Ihr italie­ni­scher Vater hat sie sehr geprägt, doch als sie sieben Jahre alt war, ging er für immer zurück in seine Heimat. Die Mutter, die glück­li­cher­weise nur dies eine Kind groß zu ziehen hatte, blieb allein.

Als Elsbeth fünf­zehn war, ging sie zum Zirkus. Schon vorher hatte sie dieses Trei­ben faszi­niert und weil sie ein so durch­set­zungs­fä­hi­ges Mädchen war, schaffte sie es auch, den Job bei “Sarra­sani ” zu bekom­men. Von dieser Zeit an begann der Zirkus ihr Leben zu werden. Elsbeth lebte nun auch im Zirkus. Viele Jahre lang arbei­tete sie als Trapez­künst­le­rin, sie flog unter’m Zirkus­zelt umher, ohne jemals einen falschen Griff zu tun. Neben Sarra­sani arbei­tete sie auch beim Münch­ner Zirkus Krone, bereiste ganz Deutsch­land und viele andere Länder. Doch dann kam der Krieg, das große Zelt durfte nicht mehr aufge­baut werden. Die Artis­ten wurden nicht mehr gebraucht und als der Zirkus 1945 endlich wieder auf Tour gehen konnte, da war es für sie nicht mehr die Zeit, durch das Trapez zu schwin­gen. Doch der Zirkus ließ sie nicht los. Sie wech­selte zu “Roncalli” und unter dem Namen Eli de Julis führte sie dres­sierte Hunde vor. Auf die Bühne wurden thea­ter­ähn­li­che Aufbau­ten gestellt und die Hunde zeig­ten darin ihre Kunst­stü­cke, sie spiel­ten Thea­ter!

Der Mauer­bau 1961 war für viele Menschen in der DDR ein tiefer Einschnitt in ihr Leben, nicht so für Elsbeth B. Sie lebte nun zwar in Ost-Berlin, doch arbei­tete auch weiter­hin im Westen. Mit Roncalli zog sie durch die Bundes­re­pu­blik und durch ganz Europa, von Däne­mark bis hinun­ter nach Spanien. Und weil sie immer unter­wegs war und weil ihre Hunde ihr Leben gewor­den sind, war auch keine Zeit, eine Fami­lie zu grün­den. Nach 35 Jahren im Zirkus kam dann aber doch das Aus: 1965 ging sie mit ihren Hunden von der Bühne und lebte seit­dem in ihrer Wohnung in der Acker­straße in Mitte, die sie bereits seit Mitte der Fünf­zi­ger Jahre gemie­tet hatte. Ursprüng­lich war ihr Haus das vierte Gebäude vor der Bernauer Straße. Doch mit dem Mauer­bau wurden die letz­ten drei Häuser abge­ris­sen und so begann direkt neben ihr, unter ihrem Fens­ter, der Grenz­strei­fen. Von dort hatte sie die nächs­ten 40 Jahre einen direk­ten Blick auf diese Grenze und Elsbeth B. nutzte das aus.

Der Fried­hof, der hinter ihrem Haus liegt, berührt eben­falls den Grenz­strei­fen und so kamen in der Nacht öfter Menschen, die über den Fried­hof rüber und von dort über die Grenze flüch­ten woll­ten. Wenn Elsbeth B. also nachts bestimmte Geräu­sche hörte, wurde sie hell­hö­rig: Das Fens­ter auf und raus­ge­schaut und dann waren da wieder mal zwei, mal drei Perso­nen, die sich viel zu auffäl­lig benah­men. Wenn es ging, holte sie die Flücht­linge über den offe­nen Hof in ihre Wohnung und behielt sie bis in die frühen Morgen­stun­den da. Sie wusste, dass die Grenz­sol­da­ten um sechs Uhr so müde sind, dass sie nicht mehr rich­tig aufpas­sen. Und notfalls wurde ihnen sogar mal Kaffee gebracht, damit sie abge­lenkt waren. So konn­ten die Flücht­linge in diesem Augen­blick die erste Mauer, den Grenz­strei­fen und die hohe Mauer direkt an der Grenze zum Wedding über­que­ren, ohne gese­hen zu werden. Drüben ange­kom­men durf­ten sie sich ja auch nicht gleich blicken lassen, aber später wink­ten sie dann von der Aussichts-Platt­form im Westen herüber — als Zeichen, dass sie es geschafft haben. Vor, hinter und sogar in dem Haus wurden die Grenz­si­che­run­gen aber immer mehr verschärft. Im Dach­bo­den bezo­gen Grenz­sol­da­ten Posten, dort kam ein Fens­ter in die Giebel­wand. Die Wach­türme wurden größer, die Grenze wurde heller ausge­leuch­tet, der Fried­hof wurde extra bewacht und hinter das Haus kam sogar eine Hunde­lauf­an­lage.

Hinter’m Hof, da wo früher mitten auf dem Grenz­strei­fen noch die alte Versöh­nungs­kir­che stand, ist ein klei­nes Areal einge­zäunt, nur die Glocken der Kirche sind dort aufge­stellt. Und manch­mal kann man eine alte Frau mit ihrem klei­nen Hund den Strei­fen entlang gehen sehen, lang­sam, aber mit wachem Blick. Sie spricht mit Passan­ten, mit ande­ren Hunde­be­sit­zern und manch­mal sogar mit ihrem Hund. Und obwohl sie heute schon so alt ist, kann man sie sich irgend­wie schon vorstel­len, wie sie in jungen Jahren unter’m Zirkus­zelt herum­fliegt, im Zirkus Sarra­sani .

Die 200.000. Mieterin

Es war das Ehepaar Voigt, das am 19. Okto­ber 1961 im Neubau­block zwischen Acker­straße und Garten­straße im Wedding einzog — und das wurde in ganz Berlin gefei­ert. Alle Zeitun­gen berich­te­ten darüber, denn diese Wohnung, im 3. Stock gele­gen, war die 200.000. Wohnung, die im Nach­kriegs-Neubau­pro­gramm errich­tet worden war. Damals war man sehr stolz auf diese Leis­tung, wohl zu Recht. Denn über­all in der Stadt lagen noch die riesi­gen Trüm­mer­berge als Zeugen des 16 Jahre zuvor verlo­re­nen Krie­ges.
War man vor 35 Jahren noch stolz und sehr froh, wenn man in diesen Block einzie­hen konnte, so sieht das mitt­ler­weile anders aus. Frau Voigt, die heute alleine in der Wohnung lebt:
“Am liebs­ten würde ich hier wegzie­hen. Doch im Alten­heim kostet ein winzi­ges Zimmer mehr, als hier die ganze Wohnung. Man kennt hier ja kaum noch jemand. Nur im Erdge­schoss wohnt noch ein Mieter von damals. Die Busver­bin­dun­gen sind ganz schlecht. Wenn ich zur Müllerstraße muss oder zum Leopold­platz, dann muss ich so lange auf den Bus warten. Über die Garten­straße kommt man kaum noch rüber, da muss ich manch­mal minu­ten­lang warten, bis mal kein Auto kommt. Und so laut ist das alles gewor­den seit­dem. Erst woll­ten sie ja die Acker­straße aufma­chen, und die Garten­straße verkehrs­be­ru­hi­gen. Aber jetzt ist es umge­kehrt und in der Acker­straße haben sie ihre Ruhe. Nur hier ist es nicht zum Aushal­ten. Ne, das ist nicht mehr schön, am liebs­ten möchte ich weg, ins Alten­heim am Leopold­platz. Aber das kann nicht mir nicht leis­ten.”

Jan und Dominique

Zwei Bewoh­ner aus den Seiten­flü­geln der Acker­straße 150/151: Jan (25) ist Student, Domi­ni­que (20) macht eine Friseur­lehre.
Jan: “Ich bin viel­leicht so vor vier­ein­halb Jahren in die Acker­straße gezo­gen, 1992. Ich hab da die Wohnung besetzt hier und das ging auch ganz schnell dann mit dem Miet­ver­trag. Und ich fühl mich auch ganz wohl hier in dem Haus. Die Nich­barn und so, wir sind ’ne gute Haus­ge­mein­schaft, kann mich nicht beschwe­ren. Wir machen da eini­ges zusam­men.“
Domi­ni­que: “Ich bin sozu­sa­gen einer von den Nach­barn, ich wohn jetzt seit drei Jahren hier. Ich bin damals mehr zufäl­lig rein­ge­kom­men, aber es hat mir auf Anhieb gut gefal­len. Die Gemein­schaft und so weiter, bin da ziem­lich herz­lich aufge­nom­men worden. Irgend­wie hab ich auch gar keine Lust mehr, hier weg zu gehen. Obwohl die Wohn­be­din­gun­gen nicht gerade die feins­ten sind. Ich hab keine Dusche, dann ne Außen-Toilette und so. Aber irgend­wie faszi­niert mich die Straße so, dass ich hier nicht weg will. Das liegt viel­leicht auch an Mitte, aber auch an der Straße.“
Jan: “Es leben einfach viele junge Leute hier, mit Kindern, und ein paar Katzen, und wir machen auch viel zusam­men. Man kann sich auch jeder­zeit was leihen oder hinge­hen und was erzäh­len und so. Das sind aber mehr die Seiten­flü­gel, kaum das Vorder­haus. Früher gab’s da immer n biss­chen Krieg, mit den Altein­ge­ses­se­nen, aber da sind jetzt auch andere dazu­ge­kom­men. Aber das hat sich jetzt auch gege­ben, die haben gemerkt, dass wir keine bösen Menschen sind, die ihnen was wegneh­men oder so, sondern die einfach nur wohnen wollen. Früher hat man uns ja ange­schrieen, “Arbeits­lo­ser” und so. Das war von vorn­her­ein so.“
Domi­ni­que: “Ja, weil man das ja auch spürte, die Feind­se­lig­kei­ten und so. Wenn zum Beispiel irgend­was war, was kaputt war oder so, dann war’n immer wir das. Man kann mit den Leuten gar nicht kommu­ni­ze­ren, da sind die gar nicht dran inter­es­siert.“
Jan: “Ich kannte vorher hier auch nieman­den, nur die über mir. Das waren Bekannte, die haben mir auch die Wohnung gezeigt, die haben wir dann aufge­bro­chen und ich bin einge­zo­gen. Dann bin ich zur WBM gegan­gen, hab gesagt, ich hab die Wohnung besetzt, und dann die Lega­li­sie­rung klar­ge­macht.“
Domi­ni­que: “Mit meiner Mutter hatte ich zuerst in Fried­richs­hain gewohnt und dann in ’ner Jugend-WG. Von da kam ich ins “betreute Einzel­woh­nen” in das Haus. Und nach einem Jahr wurde ich 18 und musste aus dem Projekt raus. Ich wusste ja, dass über mir eine Wohnung frei ist und weil die Gemein­schaft so eng war, wollte ich hier auch nicht weg und hab mich dann darum geküm­mert, dass ich die leere Wohnung bekomme.
Also die Gemein­schaft war früher ein biss­chen inten­si­ver, manche sind ja jetzt auch weg gezo­gen, teil­weise auch ins Ausland. Dadurch ist es jetzt schon weni­ger gewor­den, aber es ist immer noch recht inten­siv. Man ist also auf keinen Fall alleine. Manch­mal kommts mir so vor, als ob das Haus wie’ ne große Wohnung ist, jeder hat zwar sein eige­nes Zimmer, aber trotz­dem ist es wie in einer großen Wohnung. Man strei­tet sich auch selten.
Ich komm ja eigent­lich aus Fried­richs­hain. Aber die Gegend hier, die find ich viel fried­li­cher, also Fried­ri­che­hain ist ja eher schon aggres­si­ver. Und ich bin über­haupt nicht der Typ, der mit so was klar kommt. Die Leute hier sind so Künst­ler und Studen­ten, da kann ich mehr mit anfan­gen.“
Jan: “Für mich war das ja schon ’ne ziem­li­che Umstel­lung, ich komme ja aus ner ganz ande­ren Gegend, aus Wilmers­dorf. Verkehrs­be­ru­higt, viel Grün und so, das hat mich hier ziem­lich erschro­cken, kein Baum in der Straße, alles grau und dunkel und Ofen­hei­zung. Ist auch ein biss­chen nervig, wenn man aus dem Fens­ter guckt und nichts rich­tig sieht dann, man sieht ja nicht mal den Himmel. Aber irgend­wie mag ich das hier total die Atmo­sphäre, dass immer was los ist auf der Straße. ist auch rich­tig fried­lich hier, hab noch nie ’ne rich­tig aggres­sive Stim­mung hier erlebt, auch keine Nazis oder so.“
Domi­ni­que: “Bis vor ner Weile hatten wir auch mit den ande­ren Leuten in der Acker­straße mehr zu tun. Zum Beispiel mit denen aus der 145 oder dem Scho­ko­la­den oder aus der Acker­straße 10. Einmal im Jahr ist zum Beispiel Seifen­kis­ten­ren­nen auf der Acker­straße, da nehmen wir natür­lich dran teil. Dann gibts auch immer Hoffeste, Montags­bar, im Scho­ko­la­den ist oft Party, und sowas eben.
Ich merk aber auch schon, dass es weni­ger wird. Die meis­ten Leute entwi­ckeln sich ja auch weiter, sie werden älter, dann haben sie auch nen Job und mehr Geld und suchen sich was ande­res. Also die Wohn­be­din­gun­gen sind ja in der Acker­straße zum Teil nicht so super. Die meis­ten Leute wollen ja schon ne ordent­li­che Wohnung haben, wo’s im Winter schön warm ist, keine Außen­toi­lette und so ne Sachen. Ich find das zwar nicht so schlimm, aber irgend­wann kommt man viel­leicht in das Alter. Wenn das hier wegen dem Sanie­rungs­ge­biet noch teurer wird, aber sozu­sa­gen das Preis-Leitungs-Verhält­nis eini­ger­ma­ßen stimmt, denke ich nicht, dass ich hier weg gehe.
Was mich noch ziem­lich stört ist die Entwick­lung in der Acker­straße mit den Neubau­ten, die eigent­lich über­haupt nicht da rein passen, so diese Glas­bau­ten. Die Straße hat irgend­wie was klas­si­sches, da gehört das gar nicht rein. Dann gibts auch viel zu wenig Grün. Man sollte viel­leicht lieber eine Fläche nutzen, um da mal nen Spiel­platz zu bauen, den gibt’s hier in der Acker­straße zum Beispiel gar nicht.”

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