Ich habe nie in der Brunnenstraße gewohnt, und trotzdem war diese Straße für mich immer etwas Besonderes. Ganz früher, da habe ich hier Kuchen gekauft, für eine Verabredung mit einem Mädchen, das ich in mein Fotolabor führen, möglichst verführen wollte, aber das nicht kam, so dass ich die zwei großen Stücke der Sahnecremetorte aus dem Café Zentra (einer Art Konditorei) selber essen musste. Das Café Zentra war bekannt für seine sehr guten Konditorwaren – den Hinweis bekam ich von meiner Oma.
Etwa gegenüber vom Café Zentra befand sich Foto Borch, ein Fotoladen, der auch jetzt noch geöffnet ist. Hier kaufte ich mir einige Jahre später eine Spiegelreflexkamera, Practica BC 1. Mit dem Apparat fotografierte ich auch die Brunnenstraße. Ich war zuvor Kameraassistent geworden, und so, fast von Berufs wegen, begann ich Straßen zu porträtieren. Eine Art Ausbildungsarbeit entstand, ein Porträt der Linienstraße. Einmal der Faszination Straße erlegen, sollte das nächste Objekt der fotografisch-journalistischen Arbeit die Brunnenstraße sein. Ich begann 1986 mit ersten Recherchen, aber das Projekt scheiterte.
Das lag an mangelnder Kraft: Kraft dafür, bestimmte Fotografiegenehmigungen anzufordern, organisatorische Arbeiten, die viel Zeit fraßen und kaum kreativ waren. Für eine Fotogenehmigung im oben genannten Café Zentra etwa hätte ich eine Genehmigung der HO Mitte inklusive einer lebensmittelhygienischen ärztlichen Untersuchung bringen müssen.

So fotografierte ich vorerst nur außen, was ohne Genehmigungen auf öffentlichen Straßen auch in der DDR möglich war. Unter mir zitterte die Straße von einer U-Bahn. Es war eine Linie, die man in meinem Berlin nicht nutzte. Die Züge rollten ohne Halt von Neukölln in den Wedding. Aus der Brückenstraße kommend, die S-Bahnhöfe Jannowitzbrücke und Alexanderplatz unterquerend, folgt die U-Bahnlinie Acht dem gesamten Verlauf der Brunnenstraße. Am Rosenthaler Platz zeugten versperrte Eingänge von ihr. Auch ohne die Vibrationen aus den Untergrund war klar, dass die Straße nicht immer dort endete, wo jetzt eine Mauer die Straße, die Zählung der Hausnummern und die Straßenbahngleise zerschnitt. Die andere Seite der Straße jedoch gehörte zum Schwarzen Loch, das inmitten der Stadt lag, aus denen zwar die Telefonstimmen meiner Oma, Tante, Cousinen ertönten, das aber für mich bis 1989 eine mehr oder minder nicht existente Fläche darstellte. Aber auch der Versuch, den Rand dieses Loches zu fotografieren, misslang. Ich wollte ein Foto von den zerschnittenen Gleisen der Straßenbahn haben. Als ich das Foto machte, fühlte ich mich unbeobachtet. Kurz darauf führten mich zwei Polizisten in ein VP-Revier, das auch auf der Brunnenstraße lag. Ein Schreiben des Kulturbundes und meine naive Art, mit der ich meinen Blick auf die Grenze bagatellisierte, ließen mich glimpflich davonkommen. Damals, unmittelbar danach, schrieb ich mir den Vorfall wie folgt von der Leber:

»Ich werde in einen kahlen Raum gesetzt, die Wirkung einer Zelle (vergitterte Fenster) wird durch das Offenlassen der Tür gemildert. So sitze ich auf einem Stuhl, höre von draußen Busse, Stimmen, Autolärm. Und die Telefonate auf Grund meines Falles. Das Abchecken meiner Person verläuft anscheinend zufriedenstellend, jetzt soll noch kontrolliert werden, ob mein Auftraggeber informiert ist. Schließlich wird der Kulturbund angerufen, alles ist geklärt – ich darf gehen. Ich überlege, ob es mit dem Kulturbund viel Ärger gibt, packe meine Fotosachen wieder in die Tasche, auch den Minirecorder, bei dem vorhin noch jemand meinte, so etwas sei genehmigungspflichtig und ob ich jetzt etwa was aufgenommen hätte. Ich verlasse die Brunnenstraße. Ich wurde freundlich behandelt, natürlich machte die spannungsgeladene Situation etwas beklommen. Letztendlich lächerlich, aus dem Fotografieren einer weltweit bekannten, durch Nachrichten aus allen Ansichten bekannten Sache ein Geheimding zu machen. Frustration pocht innen drin, das Gefühl einer Gratwanderung, von keiner Welt gebraucht zu werden, während ich zwischen den alten Brunnenstraßen-Häusern nach Hause gehe, wie zur Wahrung eines Scheins immer noch mal besonders gut im Licht liegende Häuser fotografierend. Mit dem Rat, nicht die Häuser über die Rheinsberger zu fotografieren, mit dem Selbstverständnis, mit dem ich all das Interessante der letzten Stunde nicht fotografierte, wird klar, dass hier Tabus gesetzt werden und man sich schließlich selber setzt. Weiße Flecken werden also entstehen im Porträt. Nicht, dass die Schuld bei der VP oder ähnlicher im Prinzip Zensoren beziehungsweise Verhinderer von Arbeiten alleine liegt. Eigenes Unvermögen. Die Angst vor Fehlinterpretationen. Die Kluft zwischen Realität und Abbild. Auswahl – mathematisch gewichtet oder Erscheinungen herausarbeitend. Der Versuch, sich selber und Erwartungen anderer gerecht zu werden, wird immer weiße Flecken oder schlimmer Unwahrheiten bedingen.
Das Recht aber, über den für diese Straße wichtigen Aspekt, den der Teilung, ja sogar über die Straße im Gesamten zu berichten, kann mir niemand absprechen.«

Schön naiv. Und es blieb wie so häufig beim Vorsatz.
Damals war die Brunnenstraße ein für mich nicht beschreibbarer Gegenstand. Es kam nur zu den Gebäudeaufnahmen und einigen kurzen Gesprächen mit Anwohnern. Auch wurde – und das als der dritte Grund – meine Zeit immer knapper. Ich war mittlerweile Regieassistent bei einer Sendereihe namens »Berlin Original«. Aus dieser selbst für damalige DDR-Verhältnisse sehr angemotteten monatlichen Live-Sendung sollte anlässlich der 750-Jahr Feier Berlins ein Weltstadtjournal geschmiedet werden. Eine neue Redaktion wurde dafür zusammengestellt. Die weltstädtischen Elemente der Hauptstadt der DDR – Ostberlins – sollten wir schildern. Das waren Dinge wie internationale Stars im östlichen Berlin oder die Bauvorhaben Friedrichstraße und Nicolaiviertel. Bei der Abnahme der ersten Sendung des neuen weltstädtischen Formats »Berlin Journal« bekam der Leiter unseres Programmbereichs einen Wutanfall. In einem Beitrag über den Bauleiter des Nicolaiviertels war in einer Totale im Hintergrund auf einem neuen Gebäude des Viertels ein Fleck am Mauerwerk zu sehen. Der Bereichsleiter sprach von einer Ohrfeige in das Gesicht eines jeden Bauarbeiters der Hauptstadt. Wir konnten den Fleck erst nach mehrmaliger Ansicht entdecken. Es wurden also Dinge ohne Flecken gesucht. Die Brunnenstraße aber war ein einziger Fleck.

So verlor sich die Sinngebung, denn keiner benötigte einen Blick auf die Straße. Und es gab genug Ablenkung in meiner neuen Tätigkeit. Bewegung ist in den Medien alles, ich hatte genug Turbulenzen und Wirbel. Von einem weltstädtischen Journal waren wir mit unserer Sendung immer weit entfernt. Als dann in der Republik (das heißt DDR minus Berlin, Hauptstadt der DDR) die Unzufriedenheit über die ständige – im Rahmen der Jubelfeier nochmals gesteigerte – Bevorzugung Berlins mit allem, woran es der Republik mangelte, überschwappte, wurde die Sendereihe auch offiziell das, was sie schon immer war: Sie wurde unbedeutend.

Erst Jahre später beschäftigte ich mich erneut mit der Brunnenstraße. Wieder beruflich. Inzwischen war die Mauer gefallen. Die Straße frei zugänglich. Zusammen mit anderen Mitarbeitern des DFF (Deutscher Fernsehfunk, früher Fernsehen der DDR) habe ich 1990 eine Firma gegründet. 1991 suchten wir Gewerberäume in der Berliner Innenstadt. Hier half uns die Gewerberaumabteilung der WBM (Wohnungsbaugesellschaft Mitte, Nachfolgegesellschaft der Kommunalen Wohnungsverwaltung). Ich glaube, dass die WBM wichtige Impulse für die kreativen Ansiedlungen – Galerien, Medienfirmen, Ateliers usw. – gegeben hat, so dass der Mitte-spezifische Touch auch durch Unterstützung der WBM entstanden ist. Schließlich mieteten wir Räume in der Brunnenstraße 196, 2. Hof, 3. Quergebäude, 1. Etage. Ab Juli 1991 fingen wir an, diese Räume zu renovieren. Die sehr günstige Miete hatte ihren Preis: Alles musste durch uns hergerichtet werden. Es war der ehemalige Speisetrakt des VEB Heimkunst, eine Etage voller großer Küchenmaschinen, mit in das Mauerwerk geschlagenen Speisedurchreichen, einem zu erneuernden Stromnetz, morschen Fenstern, inakzeptablen Toiletten, zentimeterhohen Fettecken auf dem an der Dielung angeklebten Linoleum, vor rotem Fahnentuch, das den Speisesaal schmückte. Der Zustand dieser Räume (und auch der meisten anderen Mietobjekte, die wir uns angesehen hatten) erzählte viel über den traurigen Zustand in der Industrie am Ende der DDR.

Am 3. Oktober, dem ersten Jahrestag der Einheit, standen fast dreißig Personen – Kollegen und Freunde – in den Räumen. Sie halfen uns, die Räume zu renovieren. Am 7. Oktober, dem 42. Jahrestag der nicht mehr existierenden DDR, wurde die erste Technik in die erst halbfertigen Räume angeliefert, ein Schnittplatz für etwa siebenhunderttausend Mark. Ein Mitarbeiter des Lieferanten notierte sich beim Aufstellen der Technik sorgfältig alle Gerätenummern, da er, wie er uns später erzählte, nicht glaubte, dass wir länger als ein Vierteljahr existieren werden.
Wir ließen also los und fielen in die freien Sphären der Marktwirtschaft. Doch selbst bis jetzt erfolgte kein Aufschlag. Am 21. Oktober 1991 hatten wir unsere erste Schnittschicht. Bei einer der nächsten Schnittschichten lernte ich meine jetzige Lebensgefährtin kennen.
Unsere Firma florierte. Und wir wurden in der Brunnenstraße heimisch. Die Mieter in den vorderen Wohnhäusern der Brunnenstraße 196 ärgerten sich jahrelang über den Lärm, der durch uns auch zu sehr später Stunde entstand. Wir begannen die Straße zu benutzen. Gingen in ihr einkaufen. Richteten ein Firmenkonto in der Brunnenstraße bei der Filiale der Bayerischen Hypothekenbank ein. Wir aßen in der Straße: Zum Mitnehmen beim lmbisskiosk am Weinbergspark, einige Zeit am Anfang beim Italiener »La Fontena« (da hat’s uns noch geschmeckt), manchmal im deutschen Speiserestaurant Bachmann in der Brunnenstraße 4 (das etwa 1994 geschlossen wurde), in Eile bei Burger King am Rosenthaler Platz, in Kochs Speisestube in der Brunnenstraße, mit Gästekarte in der Küche von Bärenmenü in der Dachetage von Thyssen (jetzt Kultursenat).

Es begannen fünf Jahre ununterbrochener, hastiger Arbeit, die wie im Flug vergingen, weil sie natürlich häufig stressigen Geschäftsalltag darstellten. Einige Highlights blieben in der Erinnerung und vielleicht etwas mehr Lowlights. Eine erste Entlassung zum Beispiel oder andere Kränkungen, die man als Geschäftsführer im Rahmen der Führung einer Firma tätigt. Der unruhige Blick auf das Sterben von Firmen in unserer Umgebung. So wie die Firma BEST, die im dritten Hof der Brunnenstraße 196 ansässig war. Wir konnten aus unseren Fenstern direkt in den Werkraum der Firma sehen. Die Arbeiter, viele Frauen, polsterten morgens ab 6 Uhr Möbel aus. BEST stellte Polstermöbel her – billige Modelle beispielsweise für das Versandhaus Quelle. Die Auftragslage war eigentlich immer sehr unregelmäßig, so dass die Frauen häufig Kurzarbeit hatten. Wenn es gute Aufträge gab, dann kam etwa einmal im Monat ein LKW, der die fertigen Sofas abholte. Das Fahrzeug und seine Anhänger war so groß, dass zum Einparken die halbe Brunnenstraße abgesperrt werden musste. Es wurde dann im Nachbarobjekt Brunnenstraße 194 beladen, von dem es einen Zugang in den 3. Hof der Brunnenstraße 196 gab.
Schon alleine der Transport war also ein Paradoxon. Bei aller Ausbeutung und Selbstausbeutung in der BEST GmbH, die Arbeiterinnen in den Kittelschürzen waren immer noch teurer als ihre Kolleginnen weiter östlicher, in Russland oder Polen, so konnte die Firma die Preise nicht so niedrig halten, wie es die Auftraggeber wünschten, oder sie hätte keine Kostendeckung erreicht. Eines Tages blieben die Fenster auf der unserem Gebäude gegenüberliegenden Hofseite dunkel. Der Konkurs war angemeldet, ein Liquidator kümmerte sich dann um die restliche Abwicklung. Es war etwa 1995 und keine der Arbeiterinnen und Arbeiter habe ich wieder gesehen. So starben noch andere Unternehmen, den Anfang machte die Gaststätte Bachmann uns gegenüber, dann im 3. Hof in der Brunnenstraße 196 die Werbeagentur Sylvia-Werbung, später der Porzellanladen Hörig (in dessen großes Schaufenster einige Jahre zuvor ein PKW gerollt war), der Strumpfladen, selbst die Filiale der Berliner Bank im Vorderhaus der 196 schloss nach einigen Jahren mangels Zulauf. Manchmal starb so Tradition, manchmal starben die Visionen und Träume von Leuten. Erst rückblickend kann ich sagen, dass auch ein Teil Heimat starb, denn die Brunnenstraße wurde immer mehr ihrer ineffizienten Flecken entledigt.

Wir waren inzwischen auf der Suche nach neuen Räumen. Die Brunnenstraße wurde uns zu eng. Wir benötigten mehr Platz, zudem die ungünstige Parkplatzsituation. Das Flair des Hinterhofs. Die ständig bepinkelte Toreinfahrt, in der einmal, als Bürgermeister Diepgen einem preisgekrönten Architektenbüro im 3. Hinterhof einen Glückwunschbesuch abstattete, eine überfahrene Ratte lag. Eine Toreinfahrt, in der ein wirklich großer Mercedes nicht mehr durchpasste. Auf Kunden mit diesen Autos hofften wir. Als Firma waren wir aus der Aufbruchphase raus. Die Straße begann erst den unruhevollen Aufbruch. Bauarbeiten kündigten sich an.
Noch bevor die Straße wie ein Kadaver aufgerissen wurde, schafften wir den Absprung und zogen um. Es war höchste Zeit. Ich glaube kaum, dass unsere Firma den dann folgenden jahrelangen Bauzustand in der Brunnenstraße überlebt hätte. Wir haben die Straße verlassen, bevor sie in einen stabilen Zustand eintritt. All das Folgende sehen wir nur noch aus der Entfernung.

Die anarchistischen Elemente der Straße werden immer mehr getilgt werden. Die vakanten freien Flächen, in denen eine spontane und spielerische Entwicklung stattfinden kann, verschwinden. Die ungeklärten Besitzverhältnisse waren die Chance für die Entwicklungen in Berlins Mitte. Nachdem erst alle Eigentümer ihren Besitz ergriffen haben, muss auch die kleinste Fläche von Stadt und Raum genutzt und benutzt werden. Ergonomische Wohneinheiten. Geschäfte der Handelsketten in den Erdgeschossen. Im ersten Geschoss Arzt- oder Rechtsanwaltspraxen. Dann im mittleren Teil die rekonstruierten, hellen und noch relativ preiswerten Wohnungen. Ganz oben über der Stadt die für die Besserverdienenden ausgebauten Dachgeschosse.

Auch ich lebe im Prenzlauer Berg in einem rekonstruierten Haus, und ich fühle mich in ihm wohler als vor der Rekonstruktion. Und trotzdem: Es geht ein Raum verloren. Ein städtischer Raum, in dem ich früher sehnsuchtsvoll romantisierend etwas suchte. Projektionsfläche. Erzählstruktur. Bild. Geheimnis und Imagination durch erlebbare Geschichte. Gerümpel und Flecken, die jetzt ausgekehrt werden, beim Schönermachen zum besser Geldverdienen.
Im zeitlichen Abstand erst erkennt man die wirklichen Verluste. Kaum bemerkt, hat sich das Beobachtete auch schon wieder verändert. So auch die Brunnenstraße. Aus der lethargischen Zeit eines Dornröschenschlafes in der DDR über einen Aufbruch mit Energie und künstlerischen wie auch geschäftlichen Visionen begibt sich die Straße in eine Konsolidierung. Ist sie nahe genug am tourismusgeschwängerten Hackeschen Markt, um von seinen Besuchermassen partizipieren zu können? Oder wird in einem unentdeckten Hinterhof an neuen Utopien gehämmert, gemalt oder komponiert? Wird es eine friedvolle Wohnstraße?
Es kann sein, dass die Brunnenstraße irgendwann nichts Besonderes mehr für mich ist. Sie ist dann eine normale, konforme Straße wie viele andere auch. Vielleicht ist es aber auch nur der Blick, der einen, der man selber konform geworden ist, nicht mehr das Besondere entdecken lässt.

Sven Boeck

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