Hier wird chronologisch dokumentiert, was sich von Anfang August bis zum 9. November 1989 in der DDR tat: Anhand von Fakten, Nachrichten, Zeitungsartikeln und auch Interna aus der Staatssicherheit wird deutlich, wie sich die Situation innerhalb von 97 Tagen immer mehr zuspitzte – und in der Nacht des 9. November der Staatsführung endgültig aus der Hand glitt.
Samstag, 5. August 1989
Nachrichten
Rumänien ruft seinen Botschafter aus Ungarn zu Konsultationen ab. Anlass war ein Interview des ungarischen Fernsehens mit dem rumänischen Ex-König Michael I., der den Bukarester Staats- und Parteichef Ceausescu beschuldigte, Verbrechen gegen das Volk zu begehen und wie ein absoluter Monarch zu herrschen.
Veröffentlichungen
Frankfurter Rundschau
Honecker und seine Leute verbitten sich, zunehmend gereizt, jegliche Reformvorschläge von westlicher Seite. Nach bewährter Tradition glauben sie offenbar, dass die Schwierigkeiten nachlassen, wenn nur die Kritik verstummt. Doch sie müssen es schlucken: Was sie vielleicht im stillen Kämmerlein bereden, in der Öffentlichkeit aber nicht zugeben wollen, ist die für sie so betrübliche Tatsache, dass der Versuch schon heute gescheitert ist, die DDR als eine Insel der seligen Sozialisten in einem aufgewühlten Meer trockenhalten zu können.
Berliner Zeitung
Es ist ganz lehrreich, noch einmal auf die Sache mit den Gänsefüßchen zurückzukommen, die Axel Springer einst der DDR in seinen Zeitungen verordnet hatte. „DDR“ sollte es heißen, ob auf der Sportseite oder in politischen Kommantaren, Verkehrsmeldungen oder Wetterberichten. Überall, wo unser Land in den Spalten der Bild-Zeitung, der „Welt“ oder der „Morgenpost“ auftauchte, hatte es in Gänsefüßchen gedruckt zu werden. Vor ein paar Tagen hat man nun dieses kuriose Verfahren aufgegeben.
Hitlers Propagandisten nannten Niederlagen einst „Frontbegradigungen“, die man vornehme, um neue Siege zu erringen. Die Chefredakteure des Hauses Springer teilten ihren Lesern mit, sie würden jetzt auf die kleinen Häkchen verzichten, weil man Ballast abwerfen wolle, um künftig seriöser, glaubhafter bei den Menschen im Osten zu wirken, wenn man ihnen mit den ollen Kamellen von „Einheit und Freiheit“ kommt. Man gab der DDR im Oktober 1949 höchstens drei Monate, dann zwei bis drei Jahre. Inzwischen sind es vierzig.
Sonntag, 6. August 1989
Nachrichten
Nach einem Bitt-Gottesdienst in der Kirche von Dresden-Gittersee gegen die Errichtung eines wegen seiner Risiken abgelehnten Chemiewerkes kommt es auf dem Baugelände zu schweren Übergriffen der Polizei gegen etwa 1.500 Demonstranten. Aussage eines Augenzeugen: „Eine Gruppe von etwa 40 jungen Leuten wurde abgedrängt, mit sinnloser Gewalt zusammengeschlagen und auseinandergezerrt. Blindwütig schlugen Bereitschaftspolizisten sogar auf eine Mutter ein, die ihr sechs Wochen altes Baby vor dem Bauch trug, und zerrten einen Rollstuhlfahrer aus dem Rollstuhl, um ihn dann, auf der Straße liegend, zu verprügeln.“
Veröffentlichungen
Jürgen Kuczynski: Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende?
Wie ich es dem Regisseur vorausgesagt, wird der Film, der von mir gemacht wurde, nicht zu meinem Geburtstag aufgeführt. Er war betrübt, aber ich tröstete ihn damit, dass er ihn sicher bei meiner Beerdigung aufführen kann.
Am Donnerstag brachte das ND einen viele Spalten langen Artikel gegen einen Westdeutschen, in dem behauptet wurde, dass es mit uns bergab geht. Am Sonnabend kam die übliche begeisterte Statistik über unseren wirtschaftlichen Fortschritt.
Montag, 7. August 1989
Nachrichten
Rechtsanwalt Vogel teilt dem Bonner Ministerium für innerdeutsche Angelegenheiten mit, dass er Botschaftsflüchtlingen Straffreiheit nur bei Rückkehr in die DDR zusagen könne – ohne Zusicherung der Ausreise.
Die Leipziger Oppositionellen Werner Horn und Steffen Weigel werden verhaftet, weil sie zum 13. August eine Demonstration anmelden und auf dem Markt eine Mauer errichten wollten.
Veröffentlichungen
Der Spiegel
Da Budapest im Juni der UNO-Flüchtlingskonvention beigetreten ist und immer mehr Flüchtlinge ungarischer Abstammung aus Rumänien kommen (bisher 17.000), will Ungarn ein Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge auf seinem Gebiet zulassen. Dann aber könnte es DDR-Flüchtlinge schwerlich noch zurückschicken, ohne seine gegenüber der UNO eingegangenen Verpflichtungen zu verletzen.
Einer möglichen drastischen Einschränkung des DDR-Reiseverkehrs mit Ungarn durch Ost-Berlin sieht Budapest relativ gelassen entgegen: Ungarn, das in diesem Jahr einen gewaltigen Touristenboom erlebt, kann auf die Billig-Urlauber aus der DDR, deren Ost-Mark nicht gefragt sind, leicht verzichten.
Dienstag, 8. August 1989
Nachrichten
Die Ständige Vertretung der BRD in der DDR in der Ostberliner Hannoverschen Straße wird wegen Überfüllung geschlossen.
Das Durchgangslager Gießen für DDR-Flüchtlinge, die über Ungarn in die Bundesrepublik gekommen sind, ist mit 2.000 Belegungen überlastet. Neuankömmlinge ziehen in Turnhallen und Wohncontainer.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Seit einigen Tagen führen bundesdeutsche Medien eine lautstarke Kampagne um einige DDR-Bürger, denen in der BRD-Botschaft in Budapest widerrechtlich Aufenthalt gewährt wird, und die auf illegalen Wegen in die BRD gelangen wollen. Die Wahrnehmung sogenannter Obhutspflichten gegenüber Bürgern anderer Staaten durch die BRD ist eine typische großdeutsche Anmaßung, die aufs Schärfste zurückgewiesen werden muss.
Berliner Zeitung
Der Leiter des ungarischen Reisebüros hat gegenüber Journalisten verleumderische Behauptungen westlicher Medien und Politiker über Einschränkungen im Touristenverkehr zwischen der DDR und Ungarn zurückgewiesen.
Mittwoch, 9. August 1989
Nachrichten
Die Bundesregierung bezeichnet die Situation der 200 Ausreisewilligen in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest als „ernst, aber im Griff“. Intern wird eine Schließung erwogen.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke appelliert an die DDR-Bürger, die sich in die Ständige BRD-Vertretung in Ost-Berlin begeben haben, diese zu verlassen und sich mit der zugesicherten Straffreiheit zufrieden zu geben.
Veröffentlichungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
9 Uhr: Um diese Zeit öffnet für gewöhnlich die Rechtsabteilung der Ständigen Vertretung ihre Pforten. Heute passiert gar nichts: Das schwere Eisengitter bleibt heruntergelassen. Auch alle anderen Tore und Zufahrten sind verrammelt und verriegelt.
Dafür fahren zwei Lastwagen der Deutschen Post vor. Monteure machen sich an einem Verteilerkasten und unter einem Verteilerdeckel auf dem Bürgersteig zu schaffen. Zwei Stunden lang sind dann sämtliche Telefonleitungen in der Vertretung lahmgelegt.
9.45 Uhr: Der britische Botschafter fährt vor. Er will sich über die Lage informieren. Für den Nachmittag ist die französische Botschafterin angesagt. Der Botschafter wird eingelassen, das Fahrzeug nicht. Das weitgeöffnete Tor könnte die Wartenden zu Verzweiflungstaten verführen.
Die Tageszeitung
Rund 500 DDR-Bürger kommen täglich im Notaufnahmelager Gießen an, etwa 130 wollen die bundesdeutsche Vertretung in Ost-Berlin nur noch gen Westen verlassen. So hoch sind die Zahlen, dass die Bonner Regierung einen Sogeffekt befürchtet und deshalb eine Nachrichtensperre über den gesamten Vorgang verhängt hat. Sogar die österreichischen Behörden konnte sie überreden, nicht mehr bekanntzugeben, wieviele Flüchtlinge jeden Tag aus dem benachbarten Ungarn eintreffen.
Staatssekretär Priesnitz bringt die Bonner Ängste ungeschickt deutlich auf den Punkt: „Die Menschen sollen möglichst bleiben, wo sie sind, damit die Wiedervereinigung nicht in der Bundesrepublik stattfinden muss.“ An diesen Rat wollen sich viele DDRler ganz offensichtlich nicht halten.
Donnerstag, 10. August 1989
Nachrichten
DDR-Bürger, die nicht nach Ungarn dürfen, flüchten über die CSSR nach Ungarn und von da über die Grenze nach Österreich, wo täglich etwa 50 Personen eintreffen.
DDR-Zeitungen drucken den Text des Bonner DDR-Korrespondenten, der am Vorabend in der „Aktuellen Kamera“ verlesen worden war. Zum ersten Mal wird das Flüchtlingsthema angesprochen. Bislang hatten DDR-Bürger offiziell nur durch die Erklärung des Außenministeriums erfahren, dass sich „einige“ Menschen in der Ständigen Vertretung aufhalten.
Veröffentlichungen
Aktuelle Kamera (Korrespondentenbericht vom Vortag):
Hier in Bonn fragt sich so mancher, was die hysterische Kampagne der Massenmedien mit einigen Leuten soll, die auf dem Umweg über die ausländischen Vertretungen der BRD illegal die DDR verlassen wollen. Es könne ja wohl nicht nur das politische Sommerloch sein, das ARD und ZDF, den Rundfunk und die Zeitungen veranlasse, sich in einer Art „Frontberichterstattung“ zu überschlagen. Mit Regieanweisungen für illegale Grenzübertritte, mit der Lüge von einer angeblichen Einschränkung des Reiseverkehrs nach Ungarn, mit wilden Zahlenmanipulationen wird versucht, Bürger der DDR zu unüberlegten Schritten zu veranlassen und die Wahrheit total auf den Kopf zu stellen. Da wird von einem „großen Zustrom“ gesprochen. Man meint aber nicht die 3,288 Millionen Reisen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik und nach Berlin (West) in den ersten sieben Monaten dieses Jahres, man meint auch nicht die über 1,8 Millionen Reisen von DDR-Bürgern in die Ungarische Volksrepublik. Nein, diejenigen, die an einem Anheizen der Atmosphäre interessiert sind, meinen jene 131 Leute, die im Empfangssaal der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin unter menschenunwürdigen Bedingungen kampieren, bzw. jene 158 in der Bonner Botschaft in Budapest. Den hiesigen Behörden sind diese Zahlen und ihre Unverhältnismäßigkeit natürlich wohlbekannt.
Kenner der DDR-Politik in Bonn wissen auch, dass kein DDR-Bürger vom Besuch einer ausländischen Botschaft abgehalten wird, und niemand, der sie wieder verlässt, Folgen zu befürchten hat. Warnende Stimmen weisen darauf hin, dass diese Kampagne der Bonner Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR dazu angetan sei, eine „härtere Gangart“ der DDR geradezu zu provozieren.
Freitag, 11. August 1989
Nachrichten
Der Strom von Flüchtlingen über die grüne Grenze zwischen Ungarn und Österreich dauert an. Das ungarische Innenministerium erklärt: DDR-Bürger kommen beim ersten Fluchtversuch nach Österreich mit einer Verwarnung davon, beim zweiten Versuch wird ein Vermerk in den Pass gestempelt. Werden DDR-Bürger zum wiederholten Male gestellt, erfolgt eine Information auch an die zuständigen DDR-Behörden. In der ersten Hälfte des Jahres sei das in über 400 Fällen geschehen. Einige hundert DDR-Bürger, die in Ungarn einen Sichtvermerk im Pass erhalten haben, sind in deshalb bereits Budapest abgetaucht, sie warten auf Klärung und schließen die Rückkehr in die DDR aus.
In der Bonner Botschaft in Prag halten sich mittlerweile 30 ausreisewillige DDR-Bürger auf.
Veröffentlichungen
Radio Budapest
An unserer westlichen Grenze haben wir den eisernen Vorhang nicht deshalb liquidiert, um jenes Tor zu öffnen, das die Berliner Mauer zugesperrt hat. Die moderne Völkerwanderung ist ein neuartiges deutsches Problem, bei seiner Lösung kann Ungarn nicht behilflich sein.
Stefan Heym in einem ARD-Interview
Die Ausreisewelle ist ein fürchterliches Phänomen, das droht, die ganze DDR zu vernichten. Die DDR kann ihre Grenzen nicht komplett aufmachen, sonst ist keine Masse mehr da. Den autoritären und auch noch schlechten Sozialismus will niemand mehr.
Der Tagesspiegel
Auf dem SED-Regime lastet gegenwärtig ein Ausreisedruck. Er setzt ein ironisches Fragezeichen hinter alle spitzfindig-akademischen und gegenwärtig in politischen Zirkeln der Bundesrepublik so beliebten Gedankenspiele, ob die deutsche Frage mehr oder weniger offen oder gänzlich zu sei.
Samstag, 12. August 1989
Nachrichten
Die Berliner Grünen (Alternative Liste) schlägt vor, die Bundesrepublik sollte die DDR-Bürger bei der Einreise wie andere Nicht-EG-Ausländer (z.B. Österreicher oder Schweizer) behandeln. Das würde bedeuten, dass eine Einreise in die Bundesrepublik zwar ohne Visum möglich ist, die DDR-Bürger aber keinen automatischen Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft der BRD hätten. Die DDR könnte dann, ohne Furcht vor einer Massenflucht, ihre Reiseregelungen liberalisieren.
Veröffentlichungen
The Guardian
Wenn die Westdeutschen die Ostdeutschen als Vertreter einer anderen Nationalität würden, könnte die Mauer umgehend abgerissen werden. Dies würde auch Kanzler Kohls Problem mit der neuen Ultra-Rechten erleichtern, die ironischerweise die Einwanderung von ethnischen Deutschen ablehnt. Honecker könnte sich in der Zwischenzeit anstrengen, Ostdeutschland zu einer besseren Lebensqualität zu verhelfen, um die Warteschlange am Ausgang zu verkürzen.
Ein Übersiedler im Tagesspiegel
Das Notaufnahmelager empfängt seine „neuen“ Deutschen mit hochzähligen Wartenummern aus orangefarbigen Automaten. Ein knappes Willkommen, eine kurze Befragung nach der Person und die Übergabe eines langen Laufzettels mit einem ersten Stempel beendet das Gastspiel an der Lagerrezeption. Die Alliierten geben drei Stempel. Der „Laufzettel für das Aufnahmeverfahren“ beginnt sich zu füllen.
Dritte Station: Die Weisungsstelle. „Sie erhalten von uns Verpflegungsgeld“, sagt die freundliche Bearbeiterin, „und sieben Tickets für die BVG. Viel Glück in Berlin.“ Danke. Der viertel Stempel. Stempel Nummer 5 liefert das Bundesaufnahmeverfahren. Hier wird entschieden, ob die Deutschen aus der DDR im Land Berlin bleiben dürfen oder nach Gießen ausgeflogen werden. „Vorprüfung“ heißt die nächste Station der zukünftigen Insulaner. Der Verfassungsschutz hat das Wort. Wenn sich die gutgesicherten Türen wieder öffnen, ist der sechste Stempel auf dem Papier, der viertel Lagertag ist vorbei und der Computer mit den wichtigsten Daten des Neuankömmlings gefüttert. Drei Instanzen sieht der Laufweg noch vor.
Bild-Zeitung
Ost-Berlin, Budapest, Prag. Es geht um Flüchtlinge. Deutsche. Die Lage ist verfahren. Kein Ausweg in Sicht. Auf der Ebene Staatssekretär Priesnitz (West) und Rechtsanwalt Vogel (Ost) kommt man nicht voran, wie BILD sicher weiß. Das Kanzleramt erklärt, Helmut Kohl nehme „intensiven Anteil“ an den Vorgängen. Was spricht eigentlich dagegen, dass er zum Telefon greift und Honecker anruft? Tun Sie’s, Herr Bundeskanzler!
Sonntag, 13. August 1989
Nachrichten
Die BRD-Botschaft in Budapest wird am 28. Tag des Mauerbaus geschlossen. Die Aufnahmekapazität für DDR-Flüchtlinge ist restlos erschöpft.
Von den 131 in der Ständigen Vertretung der BRD verharrenden DDR-Bürgern verlassen nur 15 das Gebäude aufgrund der Zusicherung von Anwalt Vogel, dass sie zwar keine Ausreise, aber Straffreiheit zu erwarten haben.
Der Ost-Berliner Physiker Hans-Jürgen Fischbeck ruft in der Berliner Bekenntniskirche zur Gründung der ersten oppositionellen Sammlungsbewegung in der DDR auf, um die Ausreisewilligen mit einer Alternative zum Bleiben zu bewegen.
Veröffentlichungen
Jürgen Kuczynski: Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende?
Die Entfernung der Führung von uns, dem Volk, und ihre frechen Überheblichkeit uns gegenüber wird immer größer. Das ND bringt lange Artikel von Reinhold & Co., die keiner liest, die aber zeigen sollen, wie großartig alles bei uns geordnet ist und vorwärts geht… Geht das noch länger, muss es zur Explosion führen – auch wenn wir noch so viele auswandern lassen.
Berliner Zeitung
Für die DDR war der 13. August nicht nur deshalb eine Erleichterung, weil durch ihr entschlossenes Handeln die Kriegsgefahr gebannt worden war. Sie konnte sich bei sicheren Grenzen endlich ohne massive Störungen durch ihre Gegner, wie sie die offene Grenze ermöglichte, systematisch entwickeln und noch sichtbarer den Nachweis führen, wozu der Sozialismus auf deutschem Boden fähig ist. Sie stieg im Verlauf der 60er und 70er Jahre in die Reihe der ersten zehn Industriestaaten der Welt auf, setzte dann ein nie dagewesenes Wohnungsbau-Programm in Gang und bot den Werktätigen eine soziale Sicherheit, von der in den Zwei-Drittel-Gesellschaften im Kapitalismus keine Rede sein kann. International wurde die DDR ein interessanter Handels- und ein gefragter Dialogpartner. Sie wurde zu einem Eckpfeiler im weltweiten Kampf um Entspannung und Frieden, gegen Hochrüstung, Revanchismus und Neonazismus.
Montag, 14. August 1989
Nachrichten
Nach Schätzungen der ungarischen Regierung befinden sich 200.000 DDR-Touristen im Lande. Viele wollten nicht in die DDR zurückkehren.
Veröffentlichungen
Schriftstellerin Monika Maroni im Spiegel
Ein DDR-Flüchtling, der sagt, dass er von der vielen Arbeit, die er in seinem Leben zu leisten haben wird, ein adäquates Leben führen möchte, ein Leben, das die Bundesdeutschen seit Jahrzehnten führen, bleibt in dem verdacht niederer Beweggründe vor dem Publikum sitzen. Warum sollte er sich nichts anderes wünschen, als eine Reise nach Rumänien oder in den Harz? Warum glauben die Westdeutschen plötzlich, dass sie für das politische Schicksal der Ostdeutschen nicht zuständig sind? Es ist den Westdeutschen erspart geblieben, die Nachkriegsgeschichte der Ostdeutschen zu teilen. Die Aussicht, nun ihren Wohlstand mit ihnen teilen zu müssen, versetzt sie in Schrecken.
Dienstag, 15. August 1989
Nachrichten
Das DDR-Fernsehen zeigt Rückkehrer aus Ungarn, die nun den Westdeutschen Verführung vorwerfen. In der „Aktuellen Kamera“ kommen zwei Männer zu Wort, die „illegal“ in die BRD geflohen waren. Sie berichteten von ihre schlimmen Erlebnissen, der Vereinsamung und der Kälte im Westen.
Veröffentlichungen
Aus einer Rede Erich Honeckers, abgedruckt im Neuen Deutschland:
Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!
Der DDR-Bürgerrechtler Roland Jahn in der Tageszeitung:
Wo sind die Alternativen in der DDR zu finden? Wo sind die SED-Genossen, die ihre Reformkonzepte angeblich schon in der Schublade haben? Sie laufen mit auf vorgegebener Linie oder schweigen. Wo sind die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechts-Gruppen? Ihre Entfernung zur Bevölkerung ist fast so groß wie die der SED.
Mittwoch, 16. August 1989
Nachrichten
Vor der BRD-Botschaft in Budapest sowie vor einer Kirche entstehen Zeltlager von DDR-Bürgern. Gleichzeitig wird ein Vertreter Ungarns ins DDR-Außenministerium bestellt. Die DDR verlangt das sofortige Ende der Unterstützung der Flüchtlinge. Die Reichsbahn würde Züge zur Abholung nach Budapest schicken. Währenddessen wird bei der Stasi ein Operativstab eingerichtet, der eine Gruppe Agenten nach Budapest schickt.
Der Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Franz Bertele, wird ins DDR-Außenministerium bestellt, das sich gegen völkerrechtlichen Aktivitäten der BRD in Ungarn verwahrt.
Gleichzeitig gibt die US-Botschaft in Ost-Berlin bekannt, dass nur noch Personen eingelassen werden, die mit der unmittelbaren Tätigkeit der Botschaft in Zusammenhang stehen. Marine -Infanteristen würden „jeden ungebetenen Gast“ auf die Straße setzen.
Veröffentlichungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Nicht nur die Sowjetunion ist auf Distanz zur DDR gegangen. Auch Polen betrachtet seinen westlichen Partner mit großer Skepsis. Die Polen haben nicht vergessen, dass die DDR die Erhebung der Jahre 1980/81 in polen schärfstens verurteilt und die Funktionäre der „Solidarität“ mit einer Nazibande verglichen hat.
Berliner Morgenpost
Sozialsenatorin Stahmer warnte davor, alle Aussiedler in einen Topf zu werfen. Auch sie habe von Leuten gehört, die eine Wohnung mit Ofenheizung ablehnten: „Für so etwas bin ich nicht in den Westen gekommen.“ Aber diese Einstellung, die Emotionen schüre, habe nur ein kleiner Teil der Zuwanderer. Die Mehrheit nimmt, was man ihr anbietet.
Donnerstag, 17. August 1989
Nachrichten
Der bundesdeutschen Botschaft in Ungarn gehen die Passformulare aus, ein Sonderkurier bringt tausend neue Formular.
Veröffentlichungen
Berliner Morgenpost
Jörg Kotterba, zuvor Redakteur der BERLINER ZEITUNG berichtet von seiner Flucht
Ich bin in Richtung Bundesrepublik unterwegs. Ihr werdet meinen Schritt sicher nicht verstehen, solltet ihn aber tolerieren. Gute Heimfahrt. J.“ – Drei Stunden lang hing dieser Abschiesdsbrief an der Türklinke des Zimmers 547 im schwedischen Hotel SAS Radisson. Als Delegationsleiter hatte ich die prominenten Leichtathleten zum internationalen Meeting nach Malmö begleitet. Ich nutzte meine Privilegien, um aus- bzw. umzusteigen. Doch die Hafenstadt präsentierte sich mir, dem Inhaber eines DDR-Reisepasses, als glitzernd-freundliche Mausefalle. Die Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kopenhagen schienen auch nach meinem dritten Anruf bedauernd die Schultern zu heben: „Es tut uns leid. Ohne ein dänisches Visum haben Sie keine Chance, zu uns in die Stockholmgade zu kommen.“ Auch die Damen des dänischen Konsulats in Malmö schüttelten charmant aber konsequant mit dem Kopf. „Nein, fünf Tage brauchen wir mindestens, um für Sie die Formalitäten zu erledigen.“ Doch mein Visum für Schweden lief ab, und Enttäuschung machte sich breit, dass eine Flucht vom Westen in den Westen für einen DDR-Bürger zwar nicht durch Stacheldraht, dafür aber durch bürokratische Hürden gestoppt werden kann.
Ob mein Trio eine gute Heimreise hatte? Gab ihnen mein Abschiedsbrief zu denken?
Wieso fand ich kurz vor meiner Flucht innerhalb von 14 Tagen drei Flugblätter im Briefkasten, auf denen stand: „Honni, mach das Getto auf, wir wollen in die Freiheit“? Warum richtet Ost-Berlin als erste Stadt in der DDR nach heftigem Drängen aus Kirchenkreisen ein „Telefon des Vertrauens“ ein? Weshalb steigen Alkoholkonsum und Selbstmordquoten? Warum stöhnen die Mitarbeiter des Ost-Berliner Griesinger-Krankenhauses, einer Facheinrichtung für Depressive, über einen Zulauf wir nie zuvor?
Freitag, 18. August 1989
Nachrichten
Die Moskauer Parteizeitung „Prawda“ schreibt offen über die Möglichkeit eines politischen Umsturzes in der Sowjetunion, bei dem Gorbatschow abgelöst oder gezwungen wird, den Kurs der Verwaltung des Staates zu ändern. Die Zeitung weist auch auf die Möglichkeit hin, dass der Ausnahmezustand verhängt wird.
Veröffentlichungen
Der Tagesspiegel
Das SPD-Führungsmitglied Horst Ehmke weist den von Ost-Berlin erhobenen Vorwurf einer Einmischung zurück: „Wenn in diesem Jahr 100.000 Menschen von drüben zu uns kommen, sind wir sehr wohl von dem betroffen, was in der DDR vor sich geht.“
Berliner Zeitung
1.000 FDJ-Funktionäre aus Berliner Oberschulen bereiten sich gegenwärtig in Lenz am Plauener See auf das kommende Schuljahr vor. Zum traditionellen „Tag der Partei“ begrüßten sie gestern Helmut Müller, 2.. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Er erinnerte zunächst an die Geschichte dieses Schulungslagers und verwies auf die besondere Bedeutung des Durchgangs, der im Jahr vor dem XII. Parteitag der SED stattfindet. „Auf dem Parteitag wird das Sozialismusbild der DDR für die 90er Jahre fixiert. Jahre, in denen eure Generation die Entwicklung unseres Landes wesentlich mitbestimmen wird.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Man hat sich auf ein „Management der deutschen Teilung“ beschränkt, hat für menschliche Erleichterungen der DDR Geld gezahlt, dessen Einfluss für die DDR zunehmend lebensnotwendig wurde. Damit wurde das Regime in einer bestimmtes Weise gefestigt; nun wundert man sich, dass eine so verhärtete DDR-Führung sich entsprechend verhält. Honecker will das bescheidene Türchen, durch das er die Bühne verlassen könnte, nicht selbst öffnen. Vage ist die Rede von einem Treffen Kohls mit dem Staatsratsvorsitzenden. Der könnte in der Art eines Feldherrn einen Gnadenakt erlassen. Aber Kohl könnte nicht garantieren, dass Umstände, die nach einer Wiederholung verlangen, nicht eintreten. Abwarten heißt die Parole, bei wechselseitiger Minimierung des Gesichtsverlusts.
Leserbrief in der Berliner Zeitung
Die Entwicklung des 32-bit-Prozessors der Erfurter Mikroelektroniker ist ein erneuter Beweis für die Leistungskraft unserer Volkswirtschaft. Solche Leistungen sind zugleich die beste Antwort auf die wüste Kampagne kapitalistischer Medien gegen die DDR. Gerade in diesen Tagen, wo westlicher Medienrummel weismachen will, dass es in der DDR-Wirtschaft kriselt, sind die Fakten aus Erfurt von enormer Bedeutung.
Samstag, 19. August 1989
Nachrichten
Die ungarische Opposition lädt zu einem „paneuropäischen Frühstück“ an der ungarisch-österreichischen Grenze bei Sopron ein. Durch die symbolische Öffnung eines Grenztoren soll für ein geeintes Europa demonstriert werden. Flugblätter mit Angaben über Ort und Zeit der Aktion kursieren auch unter der DDR-Flüchtlingen in Budapest. Tatsächlich wird ein Durchgang geöffnet, durch den 660 DDR-Bürger nach Österreich fliehen. Einige Stunden später wird das Tor aber wieder geschlossen.
Veröffentlichungen
Interview mit Peter Lohauß, Parteivorstand der Grünen in Berlin (Alternative Liste):
Diejenigen, die politischer Verfolgung ausgesetzt sind, müssten einen Asylantrag stellen. Für diejenigen, die endlich mal keinen Trabi fahren wollen, sondern ein schöneres Auto, hätte das zur Folge, dass sie nicht mehr übersiedeln könnten. Wir wollen die völlige Öffnung der Reisemöglichkeiten, aber nicht die allgemeine Perspektive des Wechsels der Staatsbürgerschaft und des Aufbaus neuer Lebensverhältnisse hier. Bei diesen DDR-Bürgern muss aber klar sein, dass sie DDR-Bürger bleiben. Das Ventil der Ausreisemöglichkeit, wie es jetzt existiert, bestärkt die DDR-Führungin ihrem Kurs und schwächt immer wieder die Opposition.
Ihr sagt den Leuten also: Bleibt drüben?
Ja, das sagen wir, als allgemeine Perspektive. Wir wollen nicht, dass die schlimmen Verhältnisse in der DDR dadurch gelöst werden, dass die Menschen individuell in den Westen rüberkommen.
Mit welchem Recht könnt ihr das sagen?
Es ist eine gemeinsame Position der AL, dass wir kein wiedervereinigtes Deutschland in der Mitte Europas wollen, sondern zwei deutsche Staaten. Diese Position haben wir, obwohl wir wissen, dass viele Menschen in der DDR das anders sehen.
Das hört sich an wie die alte Krisen-Theorie der K-Gruppen: Das Ventil Ausreise zu verstopfen, damit es innen drin explodiert.
Nicht damit es explodiert, sondern damit es zu Veränderungen kommt. Es ist doch in der DDR zu keinen Veränderungen gekommen, weil die Möglichkeit immer da war, in den Westen zu gehen.
Sonntag, 20. August 1989
Nachrichten
Wegen des starken Anstroms polnischer Touristen entstehen für West-Berliner DDR-Besucher lange Wartezeiten an den Grenzübergängen. Der Senat vereinbarte deshalb mit der DDR die Einrichtung eines neuen Übergangs speziell für Polen in Lichtenrade. Die geplante Eröffnung: 1992.
Veröffentlichungen
Jürgen Kuczynski: Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende?
Der Traum: Ich habe den Nobelpreis bekommen. Das wurde am Abend bekannt. Gleich morgens kam jemand mit einem Glückwunsch von Erich. Ich dankte höflich, wie es sich gehört, aber bat ihn, Erich zu sagen, er möchte den Glückwunsch nicht wie üblich im ND veröffentlichen lassen; ich würde ihm gleich schreiben, warum. „Sehr geehrter Genosse Generalsekretär Erich Honecker: Ich danke Ihnen vielmals für Ihre freundlichen Glückwünsche. Aber ich muss mir noch überlegen, ob ich den Preis annehmen soll. Die Folge einer Annahme wäre nämlich das übliche Hochloben des Genossen J.K. einerseits und Selbstzufriedenheit der Parteiführung mit ihrer Wissenschaftspolitik andererseits. Zur Selbstzufriedenheit aber liegt nicht der mindeste Grund vor.“
Nachdem ich aufgewacht war, lag ich noch gegen alle sonstige Gewohnheit eine Viertelstunde voll nachdenklicher Freude im Bett. Aber dann sagte ich mir, wie es stets mein Vater bei solchen Träumen tat: „So gut ist der liebe Gott nun wieder nicht.“
Junge Welt
Vor 21 Jahren, am 21. August 1968, wurden Einheiten der Sowjetarmee, der NVA der DDR, der bulgarischen, polnischen und ungarischen Volksarmee in die CSSR verlegt, um an der Seite der tschechoslowakischen Werktätigen die sozialistischen Errungenschaften in diesem Lande gegen imperialistische und konterrevolutionäre Angriffe zu schützen. Jedes Jahr aufs neue ist dieses Datum Anlass für einige westliche Politiker, „Politologen“ und Medien, die Entwicklung in der CSSR zu entstellen und eine wüste Kampagne gegen den Sozialismus zu entfachen. Was hat sie vor gut zwei Jahrzehnten so sehr getroffen, dass sie noch heute wehklagen?
Montag, 21. August 1989
Nachrichten
Die SED bittet Moskau erstmals um Unterstützung bei der Flüchtlingsproblematik.
Veröffentlichungen
Der Tagesspiegel
Wirtschafts- und Gewerkschaftsfunktionäre machen keinen Hehl daraus, dass sie Unruhe in den DDR-Betrieben wächst. Die allgemeine Unzufriedenheit mit den Arbeits- und Lebensbedingungen überträgt sich auf die Stimmung in den Volkseigenen Betrieben und lähmt die Arbeitsfreude. Wenn ein Kollege am Vortag ein dringend benötigtes Ersatzteil für seinen Trabant wieder nicht bekommen hat, nutzten auch Grünpflanzen am Arbeitsplatz nichts, um seine Stimmung zu heben. Entsprechend sei dann seine Arbeitsleistung. Wohl aus diesem Grund hat sich der VEB Carl Zeiss Jena, der sich normalerweise mit ganz anderen Dingen abgibt, kürzlich veranlasst gesehen, einen betriebsinternen Sonderverkauf von Damenschlüpfern zu arrangieren. Diese sind in bestimmten Größen zum Ärger vieler Frauen nicht nur in Jena kaum zu bekommen. Dem Großunternehmen ging es mit seiner einmaligen Aktion offenbar darum, die Arbeitsfreude seiner zahlreiche weiblichen Belegschaftsangehörigen zu heben. Bei nicht in dem Kombinat beschäftigten Frauen schaffte die Schlüpfer-Initiative indessen böses Blut, wie aus der Lokalpresse hervorging.
Dienstag, 22. August 1989
Nachrichten
Die Bonner Botschaft in Prag wird geschlossen, weil etwa 140 DDR-Bürger darin Zuflucht gesucht haben. Dennoch kommen in den folgenden Tagen wieder Tausende, die nun über den Zaun in den Garten der Botschaft klettern und dort kampieren.
240 DDR-Bürger durchbrechen erneut die Grenze zwischen Ungarn und Österreich, diesmal jedoch ohne vorbereitete Absprache mit den ungarischen Sicherheitsbehörden.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Grußtelegramm von Erich Honecker zum 85. Geburtstag von Deng Xiaoping: „Unsere Grüße an Sie verbinde ich mit der festen Überzeugung, dass sich die Freundschaft und das Zusammenwirken unserer Parteien, Staaten und Völker zum Nutzen der weiteren Stärkung der Position des Sozialismus sowie im Interesse der Erhaltung und Festigung des Friedens weiterhin entwickeln und vertiefen werden. Ich wünsche Ihnen, lieber Freund Deng Xiaopeng, beste Gesundheit, Schaffenskraft und weitere Erfolge in Ihrem segensreichen Wirken zum Wohl des chinesischen Volkes und des Friedens.“
Mittwoch, 23. August 1989
Nachrichten
Ungarische Grenzer und Arbeitermilizen verhindern die erneute Flucht von DDR-Bürgern nach Österreich. Dabei kommt es zu einer Auseinandersetzung, bei der ein Ostdeutscher, bereits zehn Meter auf österreichischem Boden, erschossen wird. Von ungarischen Oppositionellen wird gefordert, den DDR-Bürgern politisches Asyl zu gewähren.
Veröffentlichungen
Literaturnaja Gazeta
Ich wage zu behaupten, dass für die meisten sowjetischen Touristen in Berlin die Mauer ein halbabstrakter und uninteressanter Gegenstand war und geblieben ist. Nehmen wir an, sie sind mit dem Zug am Ostbahnhof angekommen und stehen auf dem Bahnhofsvorplatz. Linkerhand, weit entfernt, erscheint ein grauschimmernder, fast weißer „Zaun“. Ein sehr hoher Zaun, gründlich gebaut und gepflegt. Aber woher sollen sie wissen, dass eben dies die Mauer ist?
Und wenn sie mit dem Flugzeug gekommen sind, so wird der Weg vom Flughafen Schönefeld zur Stadtmitte sie die Mühlenstraße entlangführen, und der Zaun wird sie einen Kilometer lang oder länger begleiten. Was dahinter ist, bleibt unbekannt.
Selbst das Brandenburger Tor, zu dem man sie unbedingt bringt und so oder so erwähnt, dass dahinter die Mauer sei, wird kaum Eindruck auf sie machen, das Unding wird ihnen vielleicht sogar ein bisschen gefallen. Die Mauer sieht hier ziemlich dekorativ aus, wie eine Theaterkulisse, die die schweren Säulen wirkungsvoll hervortreten lässt. Auch der Reichstag, direkt hinter der Mauer, wirkt wie ein Teil dieser Dekoration. Er steht hier majestätisch einsam und ist nicht eingeengt durch andere Bauten. Außer ihm sind hinter der Mauer nur noch die Bäume des Tiergartens und der Himmel zu sehen.
Von der westlichen Seite kommt man hier unmittelbar an die Mauer heran, kann sie mit der Hand berühren und ein Autogramm hinterlassen. Man holt aus der Tasche eine Spraydose und schreibt, was jedem so einfällt: „Greta, ich liebe dich“, „Freiheit den unterdrückten Völkern“, „Wir atmen alle die selbe Luft“. Oder auch: „Hier war Janny aus Verona.“ Es ist einfach, sich hier „künstlerisch“ zu betätigen. Die Polizei greift nicht ein. Die Mauer steht voll und ganz auf dem Gebiet der DDR und ist ihr souveränes Eigentum.
Donnerstag, 24. August 1989
Nachrichten
Die ungarische Regierung lässt die 108 Besetzer der BRD-Botschaft in Budapest nach Österreich ausfliegen. Sofort danach wird die Botschaft geschlossen, um eine erneute Inbesitznahme zu verhindern. Die DDR reagiert wie zu erwarten mit dem Protest, dass sie ihre souveränen Rechte sowie die Vertragspflichten durch Ungarn verletzt sieht. Aus Moskau kommt keine Reaktion.
Veröffentlichungen
STERN-Interview mit Günter Gaus
Es stecken viel mehr Menschen als früher den Kopf aus der privaten Nische und versuchen, sich einzumischen ins öffentliche Leben. Das passiert im Seitenschiff der Kirche, das passiert an der Basis der SED, wo sich auf Parteiversammlungen Widerspruch und sogar Hohn artikulieren, wenn die von oben vorgegebenen Themen diskutiert werden. Nicht zuletzt gibt es eine gewachsene Demonstrationsbereitschaft vieler Menschen. Es gibt größeren Freimut in der DDR bei geringerem Risiko, den Behörden unangenehm aufzufallen. Freiheit beginnt mit der Verminderung von Angst.
Aber das sind doch fast alles Freiheiten, die sich die Menschen selbst erkämpft haben.
Richtig. Es gibt bisher kaum Veränderungen in den politischen Strukturen. Und keine zuverlässige kritische Öffentlichkeit, höchstens sporadisch, etwa auf Kirchentagen.
Flüchten die Leute heute nicht mehr wegen des größeren Wohlstands in den Westen, sondern weil sie merken, dass an den Machtverhältnissen zu Hause nichts zu ändern ist?
Die Motive sind vielschichtig. Bei 80.000 Ausreisenden gibt es 80.000 Gründe. Es gibt ein Ermatten an der eigenen Existenz. Man hat sich müde gewartet auf schnelle Verbesserungen, man hat nicht mehr die Geduld für kleine Schritte. Die Leute sind konfrontiert mit einer stinkstrebeligen, verantwortungsscheuen Bürokratie. Und die Leute haben es einfach satt, dass ihnen die DDR-Medien immer das Gegenteil dessen erzählen, was sie selbst jeden Tag erfahren. Die SED braucht die Courage, die Reise-Erleichterungen fortzuführen.
Wird sie dann auch irgendwann die Courage haben, die Mauer abzureißen?
Wenn die Mauer ohne vorherige Reformen in der DDR abgerissen würde, wäre das Misstrauen vieler DDR-Bürger ihrem eigenen Staat gegenüber so groß, dass sie massenhaft zu uns kämen, weil sie sich nicht darauf verlassen wollten, dass die Mauer nicht über Nacht wieder errichtet wird.
Freitag, 25. August 1989
Nachrichten
Der ungarische Ministerpräsident Nemeth und sein Außenminister Horn fliegen in geheimer Mission nach Bonn zu Kohl und Genscher. Nemeth eröffnet das Gespräch: „Herr Bundeskanzler, Ungarn hat sich entschieden, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlauben. Wir haben uns dazu vor allem aus humanitären Gründen entschieden. Die Bundesregierung gewährt Ungarn im Gegenzug, jedoch zeitlich versetzt, einen zusätzlichen Kredit und verspricht die Aufhebung des Visazwangs und politische Hilfe beim angestrebten Beitritt Ungarns in die EU (damals noch EG).
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Die sich von Tag zu Tag fortsetzende Frontberichterstattung über den Aufenthalt von DDR-Bürgern in diplomatischen Vertretungen der BRD im Ausland, über Ausreisen von DDR-Bürgern ist darauf angelegt, Menschen zu verführen und in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Dabei wird das Westfernsehen skrupellos und unverhohlen dazu benutzt, mit organisatorischen Regie-Anweisungen Bürger der DDR zum Verlassen ihrer Heimat anzustiften.
Die Welt
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass der Druck der außenpolitischen Ereignisse – die Veränderungen in der Sowjetunion – und der Druck, der von der eigenen Bevölkerung ausgeht, so groß geworden ist, dass die Ost-Berliner Führung mit einer Lähmung reagieren wird. Sie ist nicht mehr handlungsfähig, weil ihre gesamte ideologische Grundlage in Frage gestellt worden ist. Die neue Londoner Analyse ist umso bemerkenswerter, als sie schon vor der gegenwärtigen Flüchtlingswelle abgeschlossen wurde.
Der ungarische Partei-Generalsekretär Karoly Grosz hat schon vor einiger Zeit davon gesprochen, ein wirklich radikaler Wandel Ost-Berliner Politik sei auch ein biologisches Problem. Dieser unverblümte Hinweis auf die Altersstruktur des SED-Politbüros, dessen Altersdurchschnitt 70 Jahre beträgt, ist in letzter Zeit häufiger im Westen aufgegriffen worden. Der Autor meint, die ideologische Verkrustung der DDR-Führung, die letzten Endes jeden radikalen Kurswechsel verhindern wird, sei auch typisch für die Funktionäre im Alter von 50 bis 70 Jahren. Sie müssten 30 bis 40 Jahre ihres eigenen Lebens verleugnen, wenn sie eine völlig neue Politik einleiten sollten.
Samstag, 26. August 1989
Nachrichten
Die ungarisch-österreichische Grenze wird verstärkt überwacht, um eine neue Massenflucht zu verhindern. Moskau fordert die Bundesregierung auf, die DDR-Staatsbürgerschaft zu achten.
Veröffentlichungen
Der Tagesspiegel
Die härtere Gangart der ungarischen Behörden hatte bereits unmittelbare Folgen: In der Nacht zum Freitag trafen wesentlich weniger DDR-Flüchtlinge in Österreich ein, als in den vergangenen Tagen. Der Versuch einer Gruppe von 300 DDR-Bürgern, die Grenze am Mittwoch vor laufenden Fernsehkameras eines bundesdeutschen Privatsenders zu überqueren, war für Ungarns Grenzer offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Gruppe wurde festgenommen.
Der Frust in der DDR nimmt zu, denn Ausreisende und Flüchtlinge hinterlassen große Lücken in Gesellschaft und Wirtschaft. Gravierende Lücken tun sich im medizinischen Bereich auf. Krankenhaus-Stationen mussten dem Vernehmen nach schon schließen. In einigen Krankenhäusern versehen nur noch ganz junge Assistenzärzte und ältere Mediziner ihren Dienst. In einigen Städten und Regionen müssen DDR-Bürger weit reisen, um einen Spezialisten zu sehen. In Jena können schon nicht mehr die Busse nach dem alten Fahrplan verkehren, da Busfahrer fehlen.
Einige Übersiedler plagt auch nach dem Weggehen das schlechte Gewissen. So überlegte sich eine Krankenschwester, die von ihrer genehmigten Westreise nicht in die DDR zurück wollte, ob sie das ihren Patienten antun könne. Ihre Gewissensbisse legte sie aber ab, als sie ihren Chefarzt in West-Berlin im Bus wiedertraf.
Sonntag, 27. August 1989
Veröffentlichungen
Der Tagesspiegel
Die SED hat ihren Führungsanspruch bekräftigt und sich erneut gegen Reformen nach polnischem und ungarischem Vorbild ausgesprochen. In einem gestern im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ veröffentlichten Grundsatzbeitrag zur Vorbereitung des zwölften Parteitags im nächsten Frühjahr wurde die führende Rolle der kommunistischen Partei als „objektive Notwendigkeit“ bezeichnet. Der Autor vertritt in seinem an der Parteihochschule „Karl Marx“ gehaltenen Vortrag die Auffassung, eine Symbiose von Sozialismus und Kapitalismus in einer neuen Gesellschaftsordnung sei absolut ausgeschlossen.
Berliner Morgenpost
Den Flüchtlingen und Übersiedlern aus der DDR schlägt bei ihrer Ankunft in der Bundesrepublik zurzeit eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft entgegen. Bemerkenswert ist nach den bisherigen Erfahrungen mit den Neubürgern aus der DDR deren ausgeprägter Wille zur Eigeninitiative. Sie sind offensichtlich so sehr der Gängelung in ihrer alten Heimat müde, dass sie in der neuen, von persönlicher Freiheit geprägten Umgebung, geradezu danach drängen, ihre Zukunft nun selbst zu gestalten.
Montag, 28. August 1989
Nachrichten
Während eines Menschenrechtsseminars in der Berliner Golgatha-Kirche stellt Markus Meckel den Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR vor. Der Aufruf wird von Meckel, Ibrahim Böhme, Martin Gutzeit und Arndt Noack unterzeichnet.
Veröffentlichungen
Süddeutsche Zeitung – Bericht über ein Treffen zwischen Stefan Heym und Egon Bahr in Niedersachsen
Heym würde, wenn er mit Erich Honecker zu reden hätte, mit dem reden über die versäumten Gelegenheiten zur Reform des DDR-Sozialismus. Was jetzt bei ihm zuhause zusammenbreche, sei nicht der Sozialismus als Idee, sondern der Stalinismus und dessen Strukturen. Was geschehen soll? „Freiheit der Kritik muss kommen, wenn wir etwas bewirken wollen“ sagt Heym. Freiheit öffentlicher Kritik meint er – in Zeitungen, in den Medien. Wünschenswert wäre das wohl, meint Bahr. Mittlerweile lebe die DDR-Gesellschaft im Stande der Schizophrenie; täglich würden den Menschen zwei Wahrheiten präsentiert – die DDR-Wahrheit in den dortigen Medien und unsere Wahrheit in den westlichen Medien.
Was wird in zehn, zwanzig Jahren in Deutschland sein? Stefan Heym verweigert darauf die Antwort. Er wolle keine Prophezeiungen machen, für die er seinen Alters wegen höchstwahrscheinlich nicht mehr einzustehen hätte. Bahr hingegen ließ eine Version anklingen, die freilich nichts mit Wiedervereinigung nach herkömmlichem Muster zu schaffen hat: „Es ist Quatsch, verantwortungslos, heute von Wiedervereinigung zu reden. Keine Regierung in Ost oder West würde auch nur einen Finger für die Wiedervereinigung heben.“
Dienstag, 29. August 1989
Nachrichten
Der Berliner SPD-Politiker Körting fordert in einem Positionspapier seine Partei zu einer illusionslosen Deutschland-Politik auf. Besuche bei Honecker seien eine „Reise wie mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit.“ Stattdessen spricht er sich für Kontakte mit oppositionellen Gruppen aus. Gleichzeitig fordert er einen Stopp der Fluchtbewegung und die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, weil nur so in der DDR eine Demokratisierung entstehen könne. Der CDU-Oppositionsführer Diepgen spricht von einem „Skandalpapier.“
Günter Schabowski in der Sitzung des SED-Politbüros:
„Der Gegner hat doch ein großes Konzept, er will bei uns alles zerschlagen. Sie wollen doch, dass wir den harten Rundumschlag führen. Wir müssen den Feind angreifen. Das ist der Imperialismus in der BRD. Das sind die eigentlichen Schuldigen. Nicht zuerst auf die Verleiteten rumhacken, aber den Verrat müssen wir als solchen brandmarken. Das ist auch ein Reflex der der Selbstauflösungs-Tendenzen im Sozialismus, den Menschen wird die Perspektive genommen. Deshalb kommen Parolen des Gegners zum Teil an. Was die sozialistischen Länder betrifft, müssen wir an allem anknüpfen, was sich noch bietet. Wir sollten auch die Versorgungsfrage beachten. Nicht lamentieren, sondern vor der eigenen Tür kehren.“
Mittwoch, 30. August 1989
Nachrichten
DDR-Betriebe schicken Mitarbeiter nach West-Berlin, um dort DDR-Mark in DM zu wechseln, da sie Devisen brauchen. Daraufhin fällt der Kurs in den Wechselstuben auf 8,75 DM für 100 Mark.
Veröffentlichungen
Bild
Ungarn: 20.000 brechen durch. Noch diese Woche größte Flucht aller Zeiten. Schon seit zwei Wochen kommen jeden Nacht auf dem Bahnhof Passau zwei Züge mit bis 300 DDR-Flüchtlingen an. In der DDR enden die Ferien am 31. August, dann ist nach Expertenmeinung nicht mehr mit einem nennenswerten Zustrom von Flüchtlingen zu rechnen. Die Ungarn aber wollen nicht, dass die schätzungsweise 20.000 Ausreisewilligen noch Wochen und Monate im Land bleiben.
MfS Intern
MfS-Lageeinschätzung für die Jahresplanung 1990:
In der Erkenntnis der bisherigen weitestgehenden Wirkungslosigkeit der Untergrund-Aktivitäten orientieren sich die Inspiratoren und Organisatoren politischer Untergrund-Tätigkeit stärker als bisher auf die Suche nach geeigneten Verbindungen und Einflusspositionen im Staatsapparat, in der Partei, der NVA sowie den Schutz- und Sicherheitsorganen. Sie verfolgen langfristig das Ziel, über derartige Verbindungen und Positionen Einfluss auf staatliche und gesellschaftliche Prozesse zu bekommen, die innere Stabilität der DDR zu untergraben und damit Voraussetzungen für gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen. Es zeigt sich, dass die harten Kräfte des politischen Untergrundes eine verfestigte feindliche Haltung haben und nicht erziehbar sind.
Es treten verstärkt ideologische Probleme und Schwankungen bei im Untergrund eingesetzten IM auf, die teilweise bis zu Dekonspirationen bzw. der Ablehnung einer weiteren Zusammenarbeit mit dem MfS führen. Aus den gleichen Gründen und Problemen ergeben sich zunehmend Schwierigkeiten bei der Gewinnung neuer IM für einen Einsatz im Untergrund.
Donnerstag, 31. August 1989
Nachrichten
Der ungarische Außenminister Gyula Horn kommt auf Einladung nach Ost-Berlin. Er trifft sich mit dem DDR-Außenminister Oskar Fischer und Günter Mittag, dem ZK-Sekretär für Wirtschaft.
Veröffentlichungen
Horizont International – Erinnerungen von Gyula Horn
Fischer hat nur wiederholt, dass diejenigen, die in die BRD ausreisen möchten, keine guten Leute seien und die Mehrheit der Gesellschaft sie sogar verurteile. Ich gab Fischer zu verstehen, dass ich nicht wüsste, weshalb man uns überhaupt nach Berlin eingeladen hat. Kein neuer Vorschlag. Keine Lösung. Keine Konstruktivität.
Das hat Fischer nicht gefallen. Noch weniger, als ich ihm sagte, dass wir den Schritt, den wir planten, auch tun werden. Ich teilte ihm mit, dass wir am 4. September die Gültigkeit entsprechender Punkte des Abkommens vom 1969 aufheben. Wir werden die DDR-Bürger in die Länder ausreisen lassen, die bereit sind, sie mit DDR-Pass zu empfangen, egal um welches Drittland es sich handelt. Fischer darauf: Das ist ein schrecklicher Vorschlag. Ich hielt ihm entgegen, dies sei keineswegs ein Vorschlag, sondern unsere Entscheidung, über die ich nur informiere. Darüber wurde er noch nervöser. Wir kamen nicht mehr weiter. Günter Mittag wollte mich empfangen. Mittag bat uns, wenigstens den Termin, den 4. September, zu verschieben. Ich stimmte der Verschiebung um eine Woche sofort zu.
MfS Intern
Aus einer Dienstbesprechung der Staatssicherheit:
Stasi-Minister Erich Mielke
Also sie anerkennen die Vorzüge des Sozialismus und alles, was der Sozialismus bietet an Vorzügen, aber trotzdem wollen sie weg, weil, das betrachten sie als Selbstverständlichkeit. Der Sozialismus ist gut; da verlangen sie immer mehr. So ist die Sache. Ich denke immer daran, als wir erlebten, ich konnte auch keine Bananen essen und kaufen. Nicht, weil es keine gab, sondern weil wir kein Geld hatten, sie zu kaufen. Ich meine, das soll man nicht so schlechthin nehmen. Das soll man ideologisch nehmen, die Einwirkung auf die Menschen.
Generalleutnant Hummitzsch, Chef der Stasi in Leipzig
Was die Frage der Macht betrifft, Genosse Minister, wir haben die Sache fest in der Hand, sie ist stabil, aber es ist außerordentlich hohe Wachsamkeit erforderlich. Es ist tatsächlich so, dass aus einer zufällig entstandenen Situation hier und da ein Funke genügt, um etwas in Bewegung zu bringen.
Oberst Dangrieß, Chef der Stasi in Jena
Genosse Minister, ich würde sagen, natürlich ist die Gesamtlage stabil. Allerdings sind wegen der Ungarn-Probleme viele auch progressive Kräfte nachdenklich.
Mielke
Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?
Dangrieß
Der ist morgen nicht, Genosse Minister, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.
Freitag, 1. September 1989
Nachrichten
Das DDR-Außenministerium errichtet in Ungarn Wohnwagen als „mobile konsularische Beratungsstellen“, um in der Nähe der Flüchtlingslager Rückkehrer mit dem Versprechen der Straffreiheit zu gewinnen. Währenddessen verstärkt die Stasi dort ihre Bemühungen, die Identität der Flüchtlinge herauszukriegen.
Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse antwortet der DDR-Führung auf deren Anfrage zur Unterstützung in der Flüchtlingsfrage, dass die Versuche von DDR-Bürgern, illegal in die BRD zu gelangen, nichts mit dem Verhältnis zwischen der UdSSR und der DDR zu tun habe.
Veröffentlichungen
Berliner Zeitung
Zwischen den Außenministern der DDR und Ungarns, Oskar Fischer und Gyula Horn, fand gestern in Berlin ein freundschaftliches Gespräch statt. Dabei führten die Minister einen Meinungsaustausch über Fragen der Beziehungen DDR/Ungarn. Von DDR-Seite wurde darauf hingewiesen, dass der Weg, sich über diplomatische Vertretungen anderer Staaten Ausreisemöglichkeiten zu erzwingen, nicht gangbar ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Am Donnerstag war überraschend der ungarische Außenminister Horn in Ost-Berlin mit DDR-Außenminister Fischer zusammengekommen. Gegenstand der Unterredung waren die ausreisewilligen Deutschen aus der DDR. In einem Bericht von Radio Budapest wurde kritisiert, dass ADN nur über die Darlegungen Fischers berichtet und nicht auch die Haltung Horns dargelegt habe. Die Bundesregierung befürchtet unterdessen, dass sich die Ausreise vieler DDR-Deutscher aus Ungarn verzögern wird. Grund hierfür ist das Bekanntwerden wichtiger Details des mit den Ungarn geheim verabredeten Unternehmens. Die österreichische Bundesbahn gab bekannt, dass sie von der Bundesregierung gebeten worden sei, für den Transport von Flüchtlingen aus Ungarn in die Bundesrepublik 50 Eisenbahnwagen zur Verfügung zu stellen. In der Bundesrepublik hat das Bekanntwerden wichtiger Details, die auf Zeitpunkt und Umfang der von Bonn bisher strikt geleugneten Aktion schließen lassen, zu Entsetzen geführt.
Samstag, 2. September 1989
Nachrichten
Der stellvertretende ungarische Außenminister Istvan Öszi erklärt, Budapest und Bonn hätten keinerlei Geheimpakt abgeschlossen, wonach Ungarn „wirtschaftliche Abgeltung“ aus Bonn für die legale Ausreise der DDR-Flüchtlinge nach Österreich erhalten solle. Ein derartiger „Menschenhandel“ wäre untragbar.
In einigen Bundesländern wird die Schließung von Schulen erwogen, um dort die DDR-Flüchtlinge unterzubringen.
Die Konferenz der Evangelischen Kirchen in der DDR bittet angesichts der Ausreisewelle „erneut und dringlich“ um „längst fällige Veränderungen“ in der Gesellschaft.
Veröffentlichungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Schuhmacher der Produktionsgenossenschaft wimmelt alle Aufträge ab. Die Hälfte der Kollegen sei in Urlaub, aber niemand wisse, ob sie nicht in Wirklichkeit über alle Berge seien. Auch die Friseuse ist nicht da. Sie sei in die Ferien gefahren, erklärt die Leiterin des Salons. „Nach Ungarn“, flüstert eine Kollegin von hinten und macht dazu ein vielsagendes Gesicht. Für Freunde, Nachbarn und Kollegen, die im Augenblick in Ungarn sind, legt in der DDR niemand mehr die Hand ins Feuer.
Und wer zurückkommt, ist beinahe überrascht, nicht von Erich Honecker persönlich mit Handschlag begrüßt zu werden. „Was kontrollieren die denn da vorne so lange?“ ruft es hinten in einer Schlange von Fluggästen, die, aus Budapest kommend, auf dem Flughafen Schönefeld gelandet sind und sich nun vor dem Zoll anstellen müssen: „Die sollen uns lieber einen Blumenstrauß überreichen, statt die Koffer zu durchwühlen.“ Der, der dies sagt, fühlt sich offenbar als eine Art tragischer Held. Schließlich ist er von der Urlaubsreise an den Plattensee in die Heimat zurückgekehrt und hat nicht, wie so viele seiner Landsleute, versucht, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen und sich in den Westen abzusetzen.
„Glasnost und Perestroika“ – das sind bei uns die Ausreise. Der Schriftsteller Stefan Heym hat mit diesem Satz das ganze Dilemma der DDR beschrieben.
Der Tagesspiegel
Zwei Kinder, die sich in der Ständigen Vertretung Bonns in Ost-Berlin befinden, werden den heutigen Sonnabend wohl nicht vergessen. In einer „Ersatzeinschulungsfeier“ werden sie ihren Schulbeginn feiern. Ein Lehrer, der sich unter den 116 Zufluchtsuchenden befindet, hat einen Grundschulunterricht bis zur 7. Klasse organisiert.
Sonntag, 3. September 1989
Nachrichten
Um die zunehmende Welle von DDR-Flüchtlingen unterzubringen, werden außergewöhnliche Maßnahmen getroffen. So werden in zum Beispiel Westberlin leerstehende Wohnungen beschlagnahmt. Abgeordnete rufen die Bevölkerung dazu auf, neben leeren Wohnungen auch andere Einrichtungen zu melden, in denen die Übersiedler vorübergehend untergebracht werden könnten.
Veröffentlichungen
Markus Wolf in „Im eigenen Auftrag“
Die Ausreisewelle über Ungarn und die Botschaften der BRD in Budapest, Prag und Berlin schwillt weiter an und entwickelt sich zum Dauerkrimi im Westfernsehen. Unsere Führung ist wie gelähmt. Honecker krank, die Medien reagieren mit Krampf, sie bringen Treue-Bekundungen und angebliche Leser-Proteste gegen einen Vorgang, über den sie bislang gar nicht berichtet haben. Dazu die immer verwirrendere Entwicklung in der Sowjetunion, die Regierungsbildung in Polen mit Solidarnosc-Premier Mazowiecki an der Spitze, der Auflösung der USAP in Ungarn.
Was Wunder, dass der Glaube vor allem junger Menschen an die Zukunft des „real existierenden Sozialismus“ schwindet und Bundeskanzler Kohl wie ein Sieger der Geschichte schwadroniert.
Montag, 4. September 1989
Nachrichten
In Leipzig demonstrieren nach einem Friedensgebet in der Nikolai-Kirche 1.200 Bürger, viele rufen: „Wir wollen raus!“. Bei einer Pressekonferenz auf der Leipziger Messe fordert der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, die DDR solle schnellstmöglichst Reformen erlassen.
Veröffentlichungen
Pfarrer Friedrich Magirius im Friedensgebet
Wer auf Vernunft und guten Willen setzt, sucht das Gespräch, nicht ohne das Element, das Christus gestiftet hat. Versöhnung.Weil wir uns unserer Geschichte des Krieges und der Nachkriegszeit mit all ihren Fehlern und ihrer Schuld stellen, werden wir uns bei aller Respektierung der Trennung von Kirche und Staat nicht auf einen inner-kirchlichen Bereich begrenzen lassen.
Pfarrer Schorlemmer in der Reformierten Kirche in Leipzig
Die Mündel fliehen aus dem Haus des Vormunds. Ich wüsste schon gerne, wie viele von ihnen noch am 7. Mai ihre Stimmen den Kandidaten der Nationalen Front vertrauensvoll gegeben haben, oder sind in Ungarn alles Nichtwähler und Neinsager? Wir werden nur gesunden, wenn wir uns erneuern, außen und innen. Solange aber regierungszeitungsamtlich die Flüchtlinge in Anführungszeichen gesetzt, als verführbare Objekte dargestellt, als Verräter klassifiziert werden, deren Wert an den vom Staat in sie investierten Geldern bemessen wird, die sie jetzt nicht mehr dem Staat zurückgeben, und nicht als Personen, die wir verloren haben, so lange wird der Mensch staatliches Objekt der Begierde bleiben.
Dienstag, 5. September 1989
Nachrichten
Die DDR-Nachrichtenagentur ADN meldet Straffreiheit für ausreisewillige DDR-Bürger in Ungarn, wenn sie zurückkehren. Das Vorsprechen in den Heimatorten gelte dann als Ausreiseantrag.
Veröffentlichungen
Der Spiegel
Bislang gibt es in der SED-gesteuerten Öffentlichkeit nicht einmal eine Andeutung, dass die SED-Oberen auch nur überlegen würden, wo ihre eigenen Fehler liegen und warum sie es nicht vermocht haben, einer Generation, die im Sozialismus groß geworden ist, so viel Identität und Selbstbewusstsein zu vermitteln, dass sie bis auf ein paar Querulanten im Land bleiben.
Mittwoch, 6. September 1989
Nachrichten
Mittlerweile haben sich in ungarischen Lagern fast 6.000 DDR-Flüchtlinge angesammelt. Da ihre Lage sehr unklar ist und sie keine Ausreisegarantie haben, versuchen wieder viele von ihnen, illegal über die Grenze nach Österreich zu fliehen. Gleichzeitig haben zwei DDR-Diplomaten in Budapest ihr Büro in einem Wohnwagen eröffnet, um DDR-Bürger zu finden, die bereit sind, in ihre Heimatorte zurückzukehren und dort einen Ausreiseantrag zu stellen.
Veröffentlichungen
Junge Welt
Warum berichtet die „Junge Welt“ nicht über die Demonstration von mehreren hundert Leuten am Montag abend in der Leipziger Innenstadt, wurden wir gestern von einem Leser am Telefon gefragt.
Die Antwort ist einfach: Weil diejenigen, die sich da im Anschluss an einen Gottesdienst (!) zusammenrotteten, uns, die Junge Welt, nicht informiert hatten, dass sie in Leipzig eine staatsfeindliche Aktion gegen die DDR anzetteln wollen. Wie anders als staatsfeindlich soll man es denn nennen, wenn dort Rufe laut werden wie „Mauer weg“ oder „Weg mit den Kommunisten“. Das sind Worte gegen die Gesetze der DDR, gegen die Verfassung, das ist Verleumdung von Millionen Menschen, die unseren Staat mit aufbauten und aufbauen, die fleißig arbeiten, die im Gegensatz zu Ausreißern gern in unserer Republik leben und diese, ungestört von Egoisten und politischen Rowdys, immer attraktiver und freundlicher machen wollen.
Erfahren haben wir von dieser Provokation aus dem Westfernsehen, das auf seiner täglichen Suche nach antisozialistischen Elementen wieder man rechtzeitig von seinen eigenen Statisten eingeladen worden war. Auf den Bildern war freilich auch das Entscheidenste zu sehen: Störenfriede haben bei uns keine Chance! Unsere Genossen der VP und anderer Schutz- und Sicherheitsorgane haben entschlossen gehandelt und verhindert, dass der Aufruf zur Verletzung der Gesetze der DDR öffentlich verbreitet wird – was die Westmedien ja schon zur Genüge tun. Und verhindert wurde auch, dass sich Brutalitäten und Unverschämtheiten gegen unsere Genossen ausweiten. Darüber kann die Junge Welt nur so berichten: Danke, Genossen, für eure Wachsamkeit.
Donnerstag, 7. September 1989
Nachrichten
Horst Neubauer, Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundesrepublik, fordert vom Bundeskanzleramt die „unverzügliche Einstellung der Hetz- und Verleumdungs-Kampagne“.
In der Bonner Botschaft in Prag drängen sich währenddessen bereits 300 DDR-Bürger.
Auf dem Alexanderplatz in Berlin-Mitte versuchen DDR-Bürgerrechtler eine Demonstration durchzuführen. Sie wollen damit gegen die Wahlmanipulation vom 7. Mai protestieren. Die Demonstration wird jedoch von Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst, 59 Personen werden festgenommen. Gleichzeitig werden westdeutsche Journalisten daran gehindert, den Platz zu betreten.
MfS Intern
Stasi-Generalmajor Felber bei einer MfS-Tagung
Die Qualität der politischen Führungstätigkeit muss in erster Linie daran gemessen werden, wie die erforderlichen Wirkungen in den Kollektiven erzielt werden. Das Letztere wird auch deshalb immer notwendiger, weil auch in unseren Reihen immer deutlicher wird, dass eben nicht nur das Parteikollektiv auf unsere Genossinnen und Genossen einwirkt. Sie werden in ihrer tschekistischen Arbeit mit der Ideologie des Feindes, mit ideologischen Unklarheiten und Fragestellungen, mit Mängeln, Missständen und Fehlern konfrontiert.
Im Freizeitbereich wirkt auch das auf sie ein, was unsere Werktätigen bewegt. Und machen wir uns nichts vor, es setzen sich nicht wenige Genossinnen und Genossen den Werktätigen der westlichen Massenmedien gewollt aus.
Mittwoch, 8. September 1989
Nachrichten
In der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin gelingt es den DDR-Behörden, die 117 Zufluchtssuchenden davon zu überzeugen, dass sie mit einer anwaltlichen Betreuung eine reale Chance zur legalen Ausreise bekommen. Die DDR-Bürger verlassen daraufhin die Vertretung, die daraufhin sofort geschlossen wird, um eine erneute Flucht von DDR-Bürgern zu verhindern.
Erstmals druckt die staatliche Presse in der Tschechoslowakei BRD-freundliche Artikel, was als vorsichtige Annäherung und psychologische Vorbereitung für eine humanitäre Lösung des Flüchtlingsproblems gewertet wird. Währenddessen werden die Flüchtlinge in der Prager BRD-Botschaft in Zelten untergebracht, nachdem im Botschaftsgebäude sämtliche Räume belegt sind.
Veröffentlichungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Freiheitsrosen“ aus dem Draht des Eisernen Vorhangs stellt ein österreichisch-ungarisches Gemeinschaftsunternehmen her. Die Firma, an der auch die ungarische Armee beteiligt ist, kaufte ein 50 Kilometer langes Stück des Grenzzauns. Nach den Vorstellungen des Unternehmens soll die „einfache Version“ der „Freiheitsrose“ für umgerechnet 10 bis 14 Mark auf den Markt gebracht werden. Für bessere Ausführungen müssten Liebhaber 25 bis 30 Mark aufwenden. Ein Zertifikat bestätigt, dass es sich bei dem glänzenden Draht aus einer Chrom-Molybdän-Verbindung aus deutscher Fabrikation auch wirklich um ein Stück Geschichte handelt.
Samstag, 9. September 1989
Nachrichten
In der Wohnung von Katja Havemann (Witwe von Robert Havemann) in Grünau bei Berlin gründen 30 Personen aus elf DDR-Bezirken das NEUE FORUM. Die Stasi beobachtet das Treffen, greift aber nicht ein.
MfS Intern
Stasi-internes Papier
Es zeigt sich ein ungenügendes Verständnis für die Kompliziertheit des sozialistischen Aufbaus in seiner objektiven Widersprüchlichkeit, wobei aus ihrer Sicht nicht erreichte Ziele und Ergebnisse sowie vorhandene Probleme, Mängel und Missstände dann als fehlerhafte Politik interpretiert und gewertet werden.
Diese Personen gelangen in einem längeren Prozess zu der Auffassung, dass eine spürbare, schnelle und dauerhafte Veränderung ihrer Lebensbedingungen, vor allem bezogen auf die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse, nur in der BRD oder Westberlin realisierbar sei.
Als wesentliche Gründe / Anlässe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. das ungesetzliche Verlassen der DDR werden angeführt:
• Unzufriedenheit über die Versorgungslage
• Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen
• Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung
• eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland
• unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf
• Unzulänglichkeiten / Inkonsequenz bei der Anwendung / Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter
• Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern
• Unverständnis über die Medienpolitik der DDR
Sonntag, 10. September 1989
Nachrichten
Die ungarische Regierung gibt bekannt, dass um Mitternacht die Grenze geöffnet wird. Gleichzeitig kündigt sie das gegenseitige Abkommen mit der DDR von 1969, das beiden Ländern untersagte, Staatsbürger des jeweils anderen Landes in den Westen ausreisen zu lassen, die nicht über Ausreisegenehmigungen ihres Landes verfügen.
In evangelischen Gottesdiensten in mehreren DDR-Bezirken wird ein Brief vom Landesbischof Leich an Erich Honecker verlesen, in dem Veränderungen in der Gesellschaft gefordert und Ausreisewillige gebeten werden, das Land nicht zu verlassen.
Veröffentlichungen
Kommunique der staatlichen ungarischen Nachrichtenagentur MTI
Jeder sich in Ungarn aufhaltende DDR-Bürger kann von Mitternacht an das Land in Richtung des von ihm gewünschten Zieles unter der Bedingung verlassen, dass die Behörden des Aufnahmelandes ihn aufnehmen.
Montag, 11. September 1989
Nachrichten
Am ersten Tag der offenen Grenzen verlassen 10.000 DDR-Flüchtlinge Ungarn in Richtung Österreich. Im Gegenzug gewährt die Bundesregierung Ungarn einen Kredit über 500 Millionen DM. Außerdem verspricht sie, die Nachteile auszugleichen, die Ungarn durch eventuelle Vergeltungsmaßnahmen der DDR entstünden.
In Leipzig gehen 1.000 Teilnehmer eines Friedensgebets nach der Andacht auf die Straße. Die Polizei stürmt die Demonstration und nimmt 89 Personen in Haft, die teilweise erst im Oktober wieder freigelassen werden.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Wie aus Budapest verlautet, wurde sich in der UVR aufhaltenden DDR-Bürgern illegal und unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die Grenze zu Österreich die Ausreise in die BRD ermöglicht. Dabei handelt es sich um eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik. Unter dem Vorwand humanitärer Erwägungen wird organisierter Menschenhandel betrieben. Mit Bedauern muss festgestellt werden, dass sich Vertreter der Ungarischen Volksrepublik dazu verleiten ließen, unter Verletzung von Abkommen und Vereinbarungen diese von der BRD von langer Hand vorbereitete Aktion zu unterstützen.
MfS Intern
Bericht an Minister Mielke
Als Hauptgründe für Austritte aus der Partei (Hinweise über eine erhebliche Zunahme von Parteiaustritten, besonders aus dem Bereich der materiellen Produktion, liegen aus allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt der DDR, Berlin, vor) würden insbesondere angegeben:
• Nichteinverständnis mit der Um- und Durchsetzung der ökonomischen Politik der Partei (Hauptargument: Trotz vieler Beschlüsse änderte sich nichts an der komplizierten Lage, in der Volkswirtschaft und auf dem Gebiet der Versorgung. Man habe keine überzeugende Argumente gegenüber Parteilosen und könne deshalb die Parteilinie nicht mehr vertreten);
• mangelndes Vertrauen in die Parteiführung (Hauptargument: Sie wolle die Probleme nicht wahrhaben; sie habe sich von der Basis gelöst);
• Ablehnung der Informationspolitik der Partei (Hauptargument: Die Partei überlasse es dem Gegner, sich mit unseren inneren Problemen zu befassen; die DDR-Massenmedien hielten an der Linie einer „Erfolgsberichterstattung“ fest; die Einheit von Wort und Tat sei nicht mehr gewährleistet.
Mitglieder und Funktionäre der SED üben zum Teil scharfe Kritik an der Arbeit übergeordneter Parteileitungen sowie am Inhalt und Verlauf von Mitgliederversammlungen. Diese würden häufig nur noch den Charakter von Pflichtveranstaltungen tragen.
Es werde an den Problemen vorbei geredet. Auf konkrete Fragen gebe es keine Antworten bzw. kritische Diskussionen würden mit dem Hinweis auf die Parteidisziplin „abgewürgt“. Wer auf Parteiversammlungen die vorhandenen Probleme anspreche und klare Antworten verlange, werde sehr schnell als Nörgler abgestempelt. Hauptamtliche Parteifunktionäre wirken in ihrer Argumentation „hilflos“; teilweise weichen sie unbequemen Fragen aus. Auf den Parteiveranstaltungen werde das Vermitteln von überzeugenden Argumenten und Hintergrund-Informationen vermisst. Es gebe erhebliche Informationsdefizite in der Partei. Dies sei der Grund dafür, dass viele Parteimitlieder resignierten, da sie sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlen.
Darüber hinaus mangele es den DDR-Massenmedien an Objektivität bei der Darstellung innenpolitischer Probleme. Es werde das Bild einer „heilen Welt“ des Sozialismus in der DDR vermittelt, das teilweise in krassem Widerspruch zur Wirklichkeit stehe.
Die fehlende Offenheit hemme in entscheidendem Maße die Bereitschaft der Werktätigen, aktiver mitzuwirken bei der Überwendung vorhandener komplizierter Probleme im Innern der DDR.
Dienstag, 12. September 1989
Nachrichten
Diskussion im Politbüro
Günter Mittag: Die erste Frage für mich ist, das Loch in Ungarn zuzumachen. Wieso müssen die wackligen Kandidaten fahren? Diese interne Regelung darf allerdings nicht unsere Partei und die Masse der Bevölkerung betreffen. Es ist jetzt eine Weltkampagne geworden, die durch den Verrat der Ungarn noch erweitert wird.
Kurt Hager: Es steht überhaupt die Frage, was wir mit diesem sogenannten Bruderland machen. Wir sollten unseren Botschafter zur Berichterstattung zurückrufen.
Heinz Keßler: Unseren Botschafter aus Ungarn dürfen wir jetzt nicht abberufen. Genau das wollen sie.
Hager: Ich bin doch nicht das Sprachrohr des Gegners. Ich habe mir doch den Vorschlag, den Botschafter zurückzuziehen, gut überlegt.
Hermann Axen: Der Hauptfeind ist die BRD, nicht Ungarn.
Erich Mielke: Der Vorschlag zur Kontrolle der Reisen nach Ungarn ist intern. Der Feind schlägt gegen die Partei.
Horst Sindermann: Was sich der Westen gegen Erich Honecker leistet, ist wie zur Zeit der faschistischen Juden-Pogromhetze.
Hager: Wir haben mittlerweile 250.000 Alkoholiker in der DDR. Ich habe Informationen von Schriftstellern, die regelrechte Hoffnungslosigkeit widerspiegeln.
Mittag: Das war eine gute Aussprache, um zu einem Gesamtbild zu kommen.
Mittwoch, 13. September 1989
Nachrichten
Die DDR-Regierung protestiert in Ungarn gegen die Grenzöffnung, die ihrer Meinung nach eine Verletzung völkerrechtlicher Verträge darstellt. Außerdem verlangt sie die sofortige Rücknahme dieser Entscheidung.
Währenddessen sind über 11.000 Flüchtlinge in Bayern eingetroffen.
Veröffentlichungen
Interview in der Tageszeitung mit Jens Reich zur Gründung des Neuen Forums
Ihr Gründungsaufruf ist sehr moderat gehalten, ist das ein Zufall oder ein Charakteristikum für die geplante Sammlungsbewegung?
Das ist kein Zufall. Es muss auch ruhige Stimmen in der jetzigen Situation geben. Wir wollen vermeiden, gleich wie ein Lehrmeister aufzutreten. Zudem ist das, was jetzt zu tun ist, in weiten Kreisen strittig. Einigkeit besteht darüber, dass wir in der DDR einen offenen Dialog brauchen.
Sie wollen sich für ein breites Spektrum offenhalten. Verbirgt sich dahinter aber nicht auch ein programmatisches Defizit?
Wir wollen uns strikt an die legale Prozedur halten, und deshalb dürfen wir, bevor die Anmeldung nicht genehmigt ist, keine Gründungshandlung oder programmatische Aussprachen vornehmen. Wenn es dazu kommt, wird es keinen Mangel an auch divergierenden Vorstellungen geben.
Würden Sie sich denn überhaupt als Opposition begreifen wollen?
Dieser Begriff ist uns schon mehrmals aufgezwungen worden. Ich möchte ihn aber wegen der Implikationen vermeiden wollen, wegen der Hühneraugen, auf die man da gleich tritt. Aber im Sinne von kritischem Dialog, Toleranz gegenüber auch radikal abweichenden Meinungen, würde ich den Begriff akzeptieren.
Die Welt
Es mehren sich die Anzeichen, dass der Machtkampf um die Nachfolge voll entbrannt ist. Honecker, der am 8. Juli vorzeitig vom Ostblock-Gipfel in Bukarest abreisen musste, wurde an der Gallenblase operiert und trat danach seinen „Jahresurlaub“ an. Während dieser Zeit wurde er von dem 52-Jährigen Politbüromitglied Egon Krenz vertreten. Als Honecker am 14. August die Amtsgeschäfte übernahm, fuhr Krenz in Urlaub. Honecker war jedoch nur vier Tage im Amt und trat einmal öffentlich auf; am 18. August musste er sich einer zweiten Operation unterziehen. Krenz wurde nicht aus dem Urlaub zurückgeholt, obwohl er seine sofortige Rückkehr angeboten haben soll. Dafür übernahm der Wirtschaftsexperte des Politbüros, Günter Mittag (62), die Honecker-Vertretung.
MfS Intern
Maßnahmeplan zum rechtzeitigen Erkennen und vorbeugenden Verhinderung des Missbrauchs von Reisen in bzw. durch die Ungarischen Volksrepublik
Zur zentralen Überprüfung der im MfS vorliegenden Informationen, die Einsprüche zu Reiseanträge von Bürgern der DDR in die Ungarische Volksrepublik, die Volksrepublik Bulgarien und die Sozialistische Republik Rumänien erfordern, sind folgende Arbeitsschritte durchzusetzen (…)
• Alle Reiseanträge in die genannten Länder sind in der Abteilung XII zentral zu überprüfen
• An den für den Reiseverkehr nach der UVR vorwiegend genutzten GÜSt an der Staatsgrenze zur CSSR sowie auf den internationalen Flughäfen der DDR ist zielgerichtet die Filtrierungstätigkeit im Zusammenwirken mit den Grenzzollämtern zum Erkennen von Verdachtsmomenten auf ungesetzliches Verlassen der DDR zu verstärken, ohne die reibungslose Abwicklung des grenzüberschreitenden Verkehrs zu beeinträchtigen.
Dazu sind in den Bezirksverwaltungen Dresden und Karl-Marx-Stadt Möglichkeiten zur kadermäßigen Verstärkung ausgewählter Passkontroll-Einheiten zu schaffen und zum verstärkten Dienst überzugehen.
Donnerstag, 14. September 1989
Nachrichten
Nach Gesprächen mit dem DDR-Anwalt Vogel verlassen etwa 250 der 460 Ausreisewilligen die Bonner Botschaft in Prag. Gleich danach klettern aber erneut Flüchtlinge über den Zaun auf das Botschaftsgelände.
Die Botschaft in Warschau wird ebenfalls von DDR-Bürgern bedrängt, derzeit halten sich 60 Flüchtlinge dort auf.
In der DDR gibt der „Demokratische Aufbruch“ seine Gründung bekannt.
Bundeskanzler Kohl dankt Ungarn für die Öffnung der Grenze.
Veröffentlichungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Ergriffenheit über den ungestümen Freiheitsdrang der neuen Mitbürger aus der DDR werden wohl schon bald die ersten Fragen nach den Kosten folgen: Werden sie nicht die ohnehin als zu hoch empfundenen Mieten in die Höhe treiben? Wie lange werden sie Unterstützung aus öffentlichen Mitteln beanspruchen? Werden sie die Arbeitslosenstatistik belasten oder sich als lästige Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze erweisen?
Nach Kosten zu fragen ist nicht inhuman. Und für das Gelingen der Eingliederung sind ja die wirtschaftlichen Motive wahrlich nicht die schlechtesten. Wer auch oder gar vorwiegend kommt, um die ökonomischen Freiheit des Westens genießen zu können, der hat nicht nur den Führer durchs Sozialrecht im Marschgepäck.
Man muss die Mitbürger aus der DDR nicht im Überschwang der Gefühle zu Heroen der Arbeit stilisieren. Viele werden keine oder nur mangelhafte Erfahrung mit der Technik des Arbeitsalltags haben; indes: 86 Prozent haben eine solide Lehre absolviert. Die Menschen aus der DDR sind gekommen, um zuzupacken und mitzumachen. Wenn wir sie lassen, dann sind sie uns keine Last.
Mittwoch, 15. September 1989
Nachrichten
Die Synode des Evangelischen Kirchenbundes fordert bei ihrer Jahrestagung in Eisenach demokratische Parteienvielfalt, ein neues Wahlverfahren, Reisefreiheit, die Möglichkeit friedlicher Demonstrationen und eine pluralistische Medienpolitik.
Veröffentlichungen
Landesbischof Johannes Hempel in der Synode in Eisenach
Dass seit vielen Monaten jeden Montag um 17 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig ein Friedensgebet gehalten wird, ist Ihnen sicherlich allen bekannt. Nach unserem Eindruck sind es vor allem jetzt jüngere Menschen, die da kommen. Die polizeiliche Begleitung dieses Geschehens, die ebenfalls seit Monaten besteht, hat zu einem gewissen Ritual des Abends geführt. 30 Minuten ungefähr nach dem Ende des Gottesdienstes ist die Möglichkeit zum ungehinderten Nachhause gehen. Davon machen auch sehr viele Gebrauch. Es bleiben aber auch Menschen auf dem Platz des Nikolaikirchhofes stehen. Es erfolgt dann durch bereit stehende Lautsprecher eine mehrmalige Aufforderung, auseinander und nach Hause zu gehen. Der Aufforderung kommen wiederum viele nach. Es bleibt dann ein Rest – wie gesagt meist junge Menschen -, die werden von Bereitschaftspolizei, die in Kette agiert, langsam zurückgedrängt unter Angabe des freien Ausgangs, der bestehen bleibt. Es erfolgen dabei in der Regel Zuführungen. Die Betroffenen werden dann meistens in der Nacht entlassen.
Am 11. September war es so, wie es immer war, aber graduell spürbar härter in der Endphase. Es waren Hunde hörbar und sichtbar – soweit ich gesehen habe mit Beißkorb – und es sind am Ende eine ganze Reihe von Leuten einbehalten worden mit Ermittlungsverfahren einschließlich U-Haft. Was geht in den Jugendlichen vor, was bleibt in ihnen zurück, wenn sie so behandelt werden? Was sind das für Bürger der Zukunft? Auch in den offensichtlich sehr jungen Bereitschaftssoldaten, die doch, soweit ich weiß, Wehrpflichtige sind und die jetzt in Kette vorgehen gegen fast Gleichaltrige? Was geht in denen vor?
Samstag, 16. September 1989
Nachrichten
Die Zahl der Flüchtlinge, die über Ungarn in die Bundesrepublik kommen, steigt auf 14.000 an.
Vier Mitglieder der DDR-CDU veröffentlichen einen „Brief aus Weimar“, in dem sie innerparteiliche und gesellschaftliche Reformen fordern.
Die „Bild“ behauptet, ein Geheimpapier der CDU zu kennen, das sich mit einer Wiedervereinigung verfasst.
Veröffentlichungen
Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski
Am 13. September strahlte das westliche Fernsehen Ausschnitte aus einem Forum, das ich im Mai in der Volksuniversität [in West-Berlin] hatte, aus. Natürlich nur die über uns kritischen Bemerkungen von mir. Die Folge: Die ganze Akademie ist zum größten Teil zustimmender Aufregung. Erst eine Ablehnung: Biermann, der Chef von Zeiss Jena, ließ mir durch seinen Sekretär erklären, dass er in absolute Distanz zu meinen Äußerungen geht und nicht wünscht, dass ich am Dienstag zu einer Lehrlingsgruppe spreche.
Horst Sindermann (Präsident der Volkskammer) an Horst Ehmke (SPD-Bundestags-Fraktion)
Die von Ihnen am gestrigen Tag in Bonn gemachte Ausführungen zur Reise der Bundestagsfraktion sowie die Ausführungen des Vorsitzenden der SPD, H.J. Vogel, im Bundestag besagen eindeutig, dass der im Frühjahr dieses Jahres vereinbarte Besuch einer Delegation der SPD-Bundestagsfraktion nicht den vereinbarten Zielen des Dialogs im Interesse des Friedens und der Sicherheit sowie der gleichberechtigten Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten dient, sondern voll und ganz nur auf Konfrontation und direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik gerichtet ist. Der Besuch kann deshalb nicht stattfinden.
Sonntag, 17. September 1989
Veröffentlichungen
Egon Krenz in persönlichen Notizen
Die politische Situation ist angespannt, wie ich dies bisher nicht erlebt habe. Mit wem und wo man auch diskutiert, in der Regel wird die Frage aufgeworfen, dass sich in der Vorbereitung des XII. Parteitags etwas ändern müsse. In welcher Richtung diese Änderungen sein sollen, bleibt oft unklar.
Defizite des Systems wie seine Unfähigkeit, das normale Funktionieren des Alltags zu garantieren, die früher als Details gegolten haben, werden von den Bürgern plötzlich zum Systemvergleich herangezogen. Vor zwei, drei Jahren gab es noch eine verbreitete gesellschaftliche Ablehnung der Antragsteller. Heute wächst unter Teilen der Bevölkerung das Verständnis für sie. Es ist sehr bedauerlich, dass es dem Gegner gelungen ist, bis in die Kreise der Parteimitglieder die Frage nach der „Mündigkeit des Bürgers“ zu stellen.
Aktuell ist die Frage, wie wir mit „Andersdenkenden“ umgehen. Wichtig scheint mir das differenzierte Herangehen an diese Gruppen zu sein. Es wäre falsch, auch zugespitzte Fragen – selbst wenn sie vom Gegner hereingetragen werden – nur dem Gegner zu unterstellen. Die Zeit, dass nur bestimmte „Spinner“ sie aufwerfen, ist vorbei. Manche Fragen gehen bis in die Leitungen der Partei.
Die neue Reiseordnung steht bei jenen in Kritik, die nicht reisen können und auch nicht einsehen wollen, dass das Kriterium für Reisen ins nichtsozialistische Ausland Verwandtschaftsbeziehungen sind. Denkbar wäre, die Reiseordnung zu erneuern, davon auszugehen, dass alle Bürger der DDR reisen können, dies öffentlich zu machen und gleichzeitig mitzuteilen, dass diese Reiseverordnung in Kraft tritt, wenn die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik anerkennt.
Montag, 18. September 1989
Nachrichten
In Leipzig demonstrieren Hunderte im Anschluss an ein Friedensgebet. Die Sprechchöre „Wir bleiben hier“ mischen sich jetzt mit denen, die „Wir wollen raus“ rufen. 46 Demonstranten werden festgenommen.
Immer mehr DDR-Bürger, die über die CSSR nach Ungarn wollen, werden behindert und zurückgeschickt.
Die Rockgruppe Pankow fordert zusammen mit anderen Rockmusikern in einer Resolution einen öffentlichen Dialog.
Veröffentlichungen
Rudolf Augstein im Spiegel
Kein Zweifel, eine baldige Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten würde die Gewichte in Europa verschieben, könnte die Nato unterminieren und die EG, bereits ein recht wabbliges Gebilde, in Gefahr bringen. Nur, was können die Deutschen dabei tun? Kracht der Ostblock zusammen, dann gibt es einen deutschen Gesamtstaat innerhalb der bisherigen Grenzen. Hält sich aber der Warschauer Pakt über Wasser, so bleibt es bei zwei deutschen Staaten, ohne oder mit zutun der Westdeutschen. Wir müssen die Geschichte aussitzen.
Dienstag, 19. September 1989
Nachrichten
Das Neue Forum stellt beim Ministerium des Innern den Antrag, die Gruppe gemäß Artikel 29 der DDR-Verfassung als politische Vereinigung zuzulassen.
Das Komitee für Unterhaltungskunst verlangt in einem Brief an das ZK der SED „schonungslose Offenheit“.
Vorkommnisse bei einem Konzert des 5. Rocksommers in Döbeln
(Bericht der SED Kreisleitung an die Bezirksleitung Leipzig)
Die Veranstaltung wurde durch den Moderator Karney eröffnet, der zum Schluss seiner Ansage den Sänger Herzberg der Gruppe „Pankow“ ankündigte mit der Bemerkung, dass dieser den Anwesenden etwas sagen möchte. Herzberg erklärte, dass die Gruppe „Pankow“ mit anderen Gruppen und Einzelpersonen am 18.9.89 eine Resolution verfasst hat. Sie vertreten die Auffassung, dass man in der DDR den Sozialismus nicht abschaffen sollte, vielmehr wären Reformen erforderlich. Sie schließen sich damit dem Programm an, was von der neugegründeten Organisation „Neues Forum“ vertreten wird.
MfS Intern
Information über Bestrebungen feindlicher, oppositioneller Kräfte zur Schaffung DDR-weiter Vereinigungen
Wie bereits dargestellt, propagierte der hinlänglich bekannte Pfarrer Meckel / Magdeburg im Rahmen eines am 26. August 1989 stattgefundenen „Menschenrechts-Seminars“ in der Golgatha-Kirchengemeinde Berlin die Bildung einer sogenannten Initiative zur Schaffung einer sozialdemokratischen Partei. Deren Konstituierung ist nach vorliegenden Hinweisen für den 7. Oktober 1989 vorgesehen.
Streng vertraulichen Hinweisen zufolge fand in jüngster Zeit eine Zusammenkunft der Kräfte um Meckel statt, während der ein „Aufruf der Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der DDR“ verfasst wurde, der vervielfältigt und verbreitet werden soll. damit erhoffen sich die Inspiratoren / Organisatoren eine höhere Wirksamkeit hinsichtlich der Sammlung von Gleichgesinnten / Sympathisanten.
Anfang September „konstituierte“ sich im Rahmen einer langfristig vorbereiteten Zusammenkunft von ca. 30 Führungskräften personeller Zusammenschlüsse und weiteren feindlich-negativen Personen aus der Hauptstadt Berlin, sowie den Bezirken Leipzig, Halle, Dresden, Magdeburg, Frankfurt/Oder, Potsdam und Schwerin eine sogenannte Vereinigung „Neues Forum“.
Erklärtes Ziel der „Gründungsmitglieder“ der Vereinigung „Neues Forum“ ist es, ausgehend von der Behauptung, wonach die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft gestört und die Lösung anstehender lokaler und globaler Ausgaben behindert seien, mit der Vereinigung „Neues Forum“ eine politische Plattform für die ganze DDR zu bilden, die es „Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen“ möglich machen soll, sich an der „Diskussion und Beratung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme“, am „demokratischen Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft, der Kultur“ und anderer gesellschaftlicher Probleme zu beteiligen.
Eine Gruppe reaktionärer kirchlicher Amtsträger, in der Mehrzahl langjährige Inspiratoren / Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit, unternehmen intensive Bemühungen, um bis Anfang Oktober 1989 eine Sammlungsbewegung „Demokratischer Aufbruch“ zu bilden. Die Konstituierung des „Demokratischen Aufbruchs“ ist für den 1. Oktober 1989 in der Samariterkirche Berlin-Friedrichshain vorgesehen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass dieses Vorhaben kirchenleitenden Personen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg bekannt ist und von diesen z.T. unterstützt wird. Nach Meinung von Bischof Forck, der sich unter Vorbehalt dieser „politischen Bewegung“ anzuschließen gedenkt, dürfen sich oppositionelle Gruppen vom Staat nicht in die Knie zwingen lassen.
Mittwoch, 20. September 1989
Nachrichten
In der bundesdeutschen Botschaft in Prag kampieren über 500 DDR-Flüchtlinge, die Botschaft in Warschau wird geschlossen. Die DDR-Bürger werden bei Priestern untergebracht.
Etwa 1.500 Personen haben bis jetzt den Aufruf des Neuen Forums unterschrieben.
Veröffentlichungen
Staatssekretär Bertele, Leiter der Ständigen BRD-Vertretung, an das Bundeskanzleramt
(Betrifft eine Veranstaltung des Neuen Forum in der Gethsemane-Kirche): Die Veranstaltung zeigt, dass die Arbeit neuer und alter Gruppen in der DDR weit entfernt ist von effektiver Oppositionsarbeit. Die in unserer Presse veröffentlichten Berichte über die „Opposition“ in der DDR sind übertrieben und aufgebauscht. Bärbel Bohley konnte keine Orientierung geben, ihr amateurhaftes Auftreten zeigte deutlich die Schwierigkeiten bei inhaltlicher und organisatorischer Umsetzung ihrer Ziele. Der Teilnehmerkreis bestand, soweit erkennbar, ausschließlich aus Intellektuellen, unter denen keine politischen Talente sichtbar wurden. Die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes wird auch weiterhin dafür sorgen, dass die Aufbruchsstimmung nicht zu einem tatsächlichen Aufbruch wird.
Donnerstag, 21. September 1989
Nachrichten
Das DDR-Innenministerium gibt seine Entscheidung bekannt, das „Neue Forum“ nicht zuzulassen.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Interview mit Hartmut Ferworn: Am 11. September kam ich mit dem Corvina-Express in Budapest an. In einem Bistro zwischen Bahnhof Nyugati und Kaufhaus Metro setzte sich plötzlich ein junger Mann zu mir.
Ein Ungar?
Nein, er sprach Leipziger Dialekt und sagte mir auf den Kopf zu: „Sie sind doch der Mitropa-Koch aus dem Corvina!“
Welchen Eindruck machte er auf Sie?
Keinen schlechten. Er war Anfang 20, trug einen modernen Jeansanzug. Als wir ins Gespräch kamen, bot er mir an, mir interessante Ecken der Stadt zu zeigen. Er müsse vorher nur noch Gepäck bei seiner Gastgeberin abstellen und bat mich, mitzukommen. In der ganz normalen Altbau-Wohnung bot mir eine gut deutsch sprechende Ungarin zunächst einen Kaffee und dann eine Menthol-Zigarette an. Sie schmeckte irgendwie komisch, und nach wenigen Minuten fielen mir die Augen zu, schwanden mir die Sinne.
Wie und wo sind Sie wieder aufgewacht?
In einem Reisebus, noch ziemlich benebelt. Mein „Fremdenführer“ aus Budapest saß neben mir, schlug mir auf die Schulter und antwortete auf meine Frage, wo wir seien: In der Freiheit, auf dem Weg in die BRD.
Wie erklären Sie sich denn, dass Sie in der Budapester Wohnung bewusstlos wurden?
Offensichtlich hat man mir ein Betäubungsmittel gegeben. Wie ich jetzt erfahren habe, eine beliebte Methode westlicher Geheimdienste und ihrer Handlanger.
Sie wurden also nicht „abgeworben“, sondern regelrecht verschleppt?
Ja, ich fühle mich als Opfer von Entführern, von Verbrechern.
Was war im Bus Ihre erste Reaktion?
Ich sagte dem „Fremdenführer“: „Ich will doch gar nicht in die BRD.“ Er feixte nur: „Mitgegangen, mitgehangen. Jetzt geht’s erst mal in die BRD-Botschaft nach Wien.“ Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und überlegte krampfhaft, wie ich da rauskomme.
Wo wurden Sie hingebracht?
Der Bus hielt gegen 21.30 Uhr vor der BRD-Botschaft in der Wiener Metternichgasse. Gleichzeitig kamen vier weitere Busse mit verleiteten DDR-Bürgern an. Wir wurden schon erwartet.
Wie konnten Sie diesen professionellen Menschenhändlern aus der BRD wieder entkommen?
Ich nutzte die erstbeste Gelegenheit, um telefonisch Kontakt mit der DDR-Botschaft in Wien aufzunehmen. Man schenkte mir Vertrauen. Am 14. September war ich wieder in der Heimat.
Welche Gedanken bewegen Sie, wenn Sie auf diese wahrhaft dramatischen Tage zurückblicken?
Durch eine Dummheit – man soll gerade im Ausland offensichtlich nicht zu vertrauensselig sein – bin ich in die von Bonn in Ungarn langfristig vorbereitete Abwerbekampagne hineingeraten. Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger „gemacht“ werden. Ich selbst hatte keinen Augenblick die Absicht, unser Land zu verlassen, denn ich bin der Meinung, dass es dafür überhaupt keine Gründe gibt.
[Nachbemerkung: Am 3. November 1989 entschuldigte sich das ND für diesen Bericht, den es darin selbst als unwahr bezeichnete]
Mittwoch, 22. September 1989
Nachrichten
Erich Honecker weist in einem Fernschreiben die Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen an, „dass diese feindlichen Aktionen im Keim erstickt werden müssen. Zugleich ist Sorge zu tragen, dass die Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden.“
Als Folge wird noch am selben Tag der „Plan zur Realisierung der Vorbeuge- und Sondermaßnahmen“ präzisiert. Dieser Plan liegt seit Dezember 1988 für den „Spannungsfall“ vor und sieht die Konzentration von „Konterrevolutionären“ in Isolierungslagern vor. Allein in Leipzig stehen 4.000 Bürger auf den Isolierungslisten der Staatssicherheit.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Der Minister des Innern der DDR teilt mit, dass ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag zur Bildung einer Vereinigung „Neues Forum“ eingegangen ist, geprüft und abgelehnt wurde. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen.
Samstag, 23. September 1989
Nachrichten
Das sowjetische Außenministerium weist die Behauptung in ungarischen Kommentaren zurück, Ungarn habe zuvor die Sowjetunion über die Absicht informiert, die Grenze nach Österreich für DDR-Bürger zu öffnen, und es hätte keine Einwände aus Moskau gegeben. Der offizielle sowjetische Standpunkt sei in einer Erklärung der Nachrichten-Agentur TASS vom 12. September formuliert. Danach würden die Handlungen der BRD als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR beurteilt.
Veröffentlichungen
Der Dichter Thomas Rosenlöcher – Tagebuch
Das Schlimmste an diesem Land: Neben Verfall und Zerstörung und offizieller Verlogenheit, eben auch der Niedergang der Umgangsformen, die unter uns herrschende Unfreundlichkeit, die längst in den Gesichtern festgeschriebene Verdrossenheit.
Lieber zahle ich für einen Becker Quark 4,- M, als weiterhin diese verlogenen Wurstblätter Tag für Tag aus dem Briefkasten zu ziehen. Gewiss prägt auch das schon die Physiognomie. Zumindest an meinem schadhaften Gebiss bin ich erkennbar.
Berliner Zeitung
[Bericht von einer Hallenser Bezirkstags-Sitzung]
Man spüre auch im Verlauf der Beratung, sagte Margot Honecker in ihrem Diskussionsbeitrag, wie groß das Vertrauen der Bürger zu ihren gewählten Abgeordneten ist. „In unseren Volksvertretungen wird nach gründlicher Prüfung eines Sachverhalts gemeinsam mit den Bürgern beraten, im Interesse aller Bürger entschieden und gemeinsam gehandelt“, hob Margot Honecker hervor. „Das kann nur funktionieren, wo wie bei uns die Macht in den Händen der Arbeiter und Bauern und aller Werktätigen liegt, die die Interessen des ganzen Volkes vertreten. Diese Grundfrage darf man nicht aus dem Auge verlieren, wenn von Demokratie die Rede ist, und es wird ja sehr viel darüber von denen geschwätzt, denen es daran mangelt“, unterstrich der Minister.
Sonntag, 24. September 1989
Nachrichten
Bis zu diesem Tag haben 4.000 DDR-Bürger den Aufruf des „Neuen Forums“ unterzeichnet. Bärbel Bohley erklärt, das Ziel der Bewegung sei nicht die Einführung des Kapitalismus, sondern „ein anderer Sozialismus als der in der DDR praktizierte.“
In Leipzig diskutieren Vertreter des „Neuen Forums“, der „Vereinigten Linken“, des „Demokratischen Aufbruchs“, von „Demokratie jetzt“ und anderen oppositionellen Gruppen über ihre weitere Zusammenarbeit. Die mehr als 80 Teilnehmer einigen sich darauf, dass das „Neue Forum“ die Dachorganisation werden soll.
Veröffentlichungen
Jürgen Kuczynski – Tagebuch
Die Lage spitzt sich immer mehr zu, und es kann nicht mehr lange so weitergehen. Das Wichtige ist nur, dass es nicht zu einer Explosion kommt. Hatte drei Versammlungen in einer Woche, davon zwei im Kulturbund in Wernigerode, da die erste sofort völlig besetzt war. Bei der zweiten standen etwa 20 Menschen im Freien vor dem Fenster.
Auch auf diesen Veranstaltungen ist die Stimmung ungeduldig kritisch. Die Menschen fragen: Was können wir tun, um eine Veränderung zu bringen? Wann werden endlich die Alten oben abgelöst? Es herrschen Zorn und Verzweiflung.
Montag, 25. September 1989
Nachrichten
In Leipzig nehmen an der Montagsdemonstration circa 4.000 Menschen teil, sie fordern die Zulassung des „Neuen Forums“. Die Demonstranten marschieren über den Ring um die Innenstadt bis zur „Runden Ecke“, dem Leipziger Stasi-Hauptquartier und weiter zum Hauptbahnhof. Dort besetzen sie die Haupthalle.
Veröffentlichungen
Jurek Becker in der Tageszeitung
Die Legitimationskrise speist sich vor allem daraus, dass seit nunmehr 40 Jahren ein Land gegen die Wünsche der überwiegenden Mehrheit seiner Bevölkerung regiert wird. Wenn ich immer wieder höre, die Entwicklung zum Sozialismus in der DDR sei unumkehrbar, dann frage ich mich, woher diese Gewissheit kommt. Ist damit gemeint: Und wenn Ihr Euch auf den Kopf stellt, wir machen weiter?
Dienstag, 26. September 1989
Nachrichten
Erich Honecker befiehlt „zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und zur Verhinderung von Provokationen“ am Jahrestag der DDR die Herstellung der Führungsbereitschaft der Bezirkseinsatzleistung und der Kreiseinsatzleistung der Berliner Stadtbezirke.
Die Gewerkschaftsgruppe des künstlerischen Personals des Deutschen Theaters in Berlin fordert in einem Offenen Brief an Ministerpräsident Stoph die Öffnung der DDR-Medien für das Neue Forum.
Die Kunsthochschule Berlin protestiert mit einem Offenen Brief an den FDJ-Zentralrat gegen das Verbot des Neuen Forums und kritisiert die „Verantwortungslosigkeit unserer Medienpolitik.“
In Berlin-Prenzlberg formiert sich nach dem Fürbittgebet in der Gethsemane-Kirche die erste kleinere Demonstration.
Im China wird die Partei- und Staatsdelegation der DDR unter Leitung von Egon Krenz begrüßt. Ihr erster öffentlicher Auftritt führt sie auf den Pekinger Platz des Himmlischen Friedens, auf dem dreieinhalb Monate zuvor die chinesischen Panzer die oppositionellen Studenten-Proteste zermalmten.
MfS Intern
Information über eine öffentlichkeits-wirksame provokatorisch-demonstrative Aktion im Anschluss an das sog. Montagsgebet in der Nikolaikirche in Leipzig
Das „Montagsgebet“ wurde durch den hinlänglich bekannten Pfarrer Wonneberger zum Thema „Gewalt“ gestaltet. In provokatorischer Absicht tätigte er gezielt Aussagen wie „Wer den Knüppel zieht, muss auch den Helm tragen“ sowie „Wenn die Verfassung nicht dem Bürger nützt, muss die Verfassung geändert werden.“
Abschließend wurden die Anwesenden aufgefordert, sich beim Verlassen der Kirche ruhig, besonnen und gefasst zu verhalten, sich bei Konfrontationen mit den Sicherheitsorganen unterzuhaken und hinzusetzen. Weitere gegebene Orientierungen bezogen sich auf das Verhalten bei Zuführungen und Vernehmungen (eindeutige Orientierung auf Aussageverweigerung). Der Inhalt dieses Montagsgebets erzeugte unter den Teilnehmern eine angeheizte Atmosphäre und aggressive Stimmung.
Nach Beendigung der Veranstaltung vereinten sich die Teilnehmer mit den auf dem Vorplatz versammelt gewesenen Personen zu einer auf ca. 3.500 Personen angewachsenen Menschenansammlung, die sich gegen 18.20 Uhr, initiiert durch eine ca. 300-köpfige Personengruppe durch das Stadtzentrum in Leipzig in Richtung Georgiring bewegte. Diese Gruppe initiierte außerdem Sprechchöre mit Rufen wie „Freiheit“ und den Gesang der Internationalen sowie des Liedes „We shall overcome.“
Gegen 18.50 Uhr begab sich diese Personenansammlung in voller Straßenbreite zum Vorplatz des Hauptbahnhofes Leipzig, zog weiter zum Friedrich-Engels-Platz und kehrte von dort aus zum Hauptbahnhof zurück,wo sie sich teilweise auflöste.
Mittwoch, 27. September 1989
Nachrichten
Die Initiative Frieden und Menschenrechte verlangt in einem Brief an das Politbüro die Aufhebung des Paragraphs 213 des Strafgesetzbuches, der „versuchten illegalen Grenzübertritt“ unter Strafe stellt. Es sei unverständlich, dass die DDR Ausreisewilligen in bundesdeutschen Missionen Straffreiheit zusichere, aber Flüchtlinge verfolge.
Inzwischen sind über 26.500 DDR-Bürger über Ungarn geflohen.
Veröffentlichungen
Der Dichter Thomas Rosenlöcher – Tagebuch
Dauerbesuch. Zuletzt Czechowski, der die Woche über meist in der Psychotherapie bleiben muss: Depressionen. Auch für ihn formuliere ich einen kleinen Brief an seine Exzellenz, den Vorsitzenden des Staatsrats, Forumverbot. Komme mir dabei sehr kühn vor. Verfalle sofort in einen leichten Funktionärston. Entkomme ihm erst einigermaßen, da ich begreife, dass ich den Brief gar nicht an ihn, sondern an mich schreibe, nämlich aus Gründen der Selbstachtung. Rakowski, höre ich im Radio, fürchtet, die Perestroika müsse noch durch Blut und Tränen gehen.
MfS Intern
Plan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während des 40. Jahrestags der Gründung der DDR
Die Koordinierung und Organisation des Zusammenwirkens aller Schutz- und Sicherheitsorgane wird dem Minister für Staatssicherheit übertragen. Alle Versuche von Künstlern, Moderatoren und anderen Kulturschaffenden, stattfindende Veranstaltung zur Propagierung von Aufrufen im Sinne von „Neues Forum“ zu missbrauchen, sind konsequent und wirksam zu unterbinden.
Information über die Reaktion von Antragstellern auf die Ablehnung der Anmeldung der Vereinigung „Neues Forum“
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurden durch die Stellvertreter des Leiters der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten des MdI bzw. durch den Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Hauptstadt der DDR, Berlin, für Inneres und durch die Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke für Inneres in Potsdam, Schwerin, Leipzig, Cottbus, Dresden, Halle und Neubrandenburg Gespräche mit den Antragstellern über die Ablehnung ihrer Anmeldungen der Vereinigung „Neues Forum“ geführt.
Alle Antragsteller nahmen die Entscheidung und Belehrung zur Kenntnis. Die Mehrheit zweifelte die gegebene Begründung, der zufolge für die Bildung der Vereinigung keine gesellschaftliche Notwendigkeit besteht, an und brachte zum Ausdruck, diese nicht anzuerkennen. Wiederholt wurde unter Bezugnahme auf Ergebnisse von Unterschriften-Sammlungen betont, „viele Bürger wünschten diese Vereinigung“.
Mehrfach wurde seitens der Antragsteller die Frage aufgeworfen, ob sie die Entscheidung schriftlich erhalten und Beschwerde einlegen können (beides wurde verneint). In diesem Fall wurde die Absicht geäußert, sich beschwerdeführend an die UNO wenden zu wollen.
Donnerstag, 28. September 1989
Nachrichten
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher spricht in New York mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse über die Situation in den Botschaften.
Veröffentlichungen
Die Zeit [über die Montagsdemonstrationen]
Nach der Gebetsstunde, die besucht war wie nie zuvor, blieb es bei der Gewaltlosigkeit. In Zwanziger-Reihen ging es dann Richtung Hauptbahnhof. Effektvoll stürmte die Menge die breite Betontreppe, die zu den Bahnsteigen hinaufführt und funktionierte sie zu einer riesigen Tribüne um. Dicht bei dicht standen sie dort wie in einem Amphitheater, und ihr rhythmisches Klatschen brauste durch die hochgewölbte Halle. Einer stimmte das Lied an, Hunderte fielen ein, einer alten Frau in der lange Reihe vor den Fahrkartenschaltern knickten buchstäblich die Knie ein: „Völker hört die Signale…“, die Internationale. Und danach: „We shall overcome“. Als ein Bass versuchte, mit dem Deutschlandlied durchzukommen, ging er in Pfiffen unter.
(…)
Die ersten Schritte zu einer notwendigen Umgestaltung der DDR ergeben sich aus deren Zustand. Als Erstes müssten die überalterten Parteiführer (oder deren Nachfolger) einsehen, dass sie nicht unfehlbar sind. Bei alldem fällt freilich auf, dass selbst in den Klagekatalogen der Oppositionellen von Wirtschaft wenig die Rede ist, oder wenn, dann nur in Form von linker Traumtänzerei. „Die merken gar nicht, auf welchem Trümmerhaufen sie alle sitzen“, kommentiert ein kundiger Beobachter. Der Umbau der DDR – eine Sisyphusarbeit.
MfS Intern
Bericht für den Monat September. Verlauf und Ergebnisse
Viele Genossinnen und Genossen, so kam zum Ausdruck, scheuen sich vor solchen Diskussionen (über die Ausreisewelle) mit den Bürgern, weil heute allgemeine Argumente wie z.B. der Sozialismus siegt oder der Imperialismus ist sterbender Kapitalismus eben nicht mehr ausreichen.
Mittwoch, 29. September 1989
Nachrichten
In der bundesdeutschen Botschaft in Warschau sind etwa 550, in Prag 2.500 Flüchtlinge. Der Platz in den Zelten in Prag wird immer enger. Erste Befürchtungen über den Ausbruch von Seuchen werden laut. Durch die Enge sind die Menschen gezwungen, in Schichten zu schlafen, da nicht genug Platz für alle da ist.
Gewerkschaftler des VEB Bergmann Borsig kritisieren in einem Brief an Harry Tisch, Vorsitzender des FDGB-Vorstandes, die informationspolitik: „Es trifft nicht im Entferntesten die Überzeugung und Empfindungen der Mehrzahl unserer Kollegen, wenn die Medien nach peinlichem Schweigen nun den Versuch unternehmen, die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen.“
Veröffentlichungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Genscher beschrieb [gegenüber Schewardnadse] die Lage der 2.000 Deutschen aus der DDR in der Prager Botschaft als „kaum vorstellbar“. Schewardnadse antwortete mit allgemeinen Wendungen, verzichtete aber auf propagandistische Ausführungen. Die Bonner Gesprächsteilnehmer spürten eine Anteilnahme Schewardnadses: „Es ging ihm menschlich nahe“, sagte ein Diplomat.
Junge Welt
Prof. Heinz Kamnitzer, Präsident des PEN der DDR
Ihr Völker der Welt, schaut auf diesen Staat. In dem Land zwischen Kiel und Konstanz geht die Drachensaat auf. Da fordert man gebieterisch die Gebiet jenseits der Grenzen zurück und will sich wieder alles, was deutscher Herkunft ist, einverleiben oder in Obhut nehmen.
Schaut auf diesen Staat, in dem die Ehrenmale der Widerstandskämpfer geschändet, den Türken ihr Los mit dem „Lied vom Tod“ vorausgesagt wird. Ihr Franzosen und Engländer, ihr Holländer und Schweden, ihr Polen und Ungarn, ihr Deutschen überall: Was ist das für ein Staat? Ihr kennt ihn nicht? Ihr werdet ihn kennenlernen!
Notizen von Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher
Wir erfahren gegen 17 Uhr, dass die DDR am Samstag für Prag und Warschau die Lösung verwirklichen will, wie sie am Mittwoch mit Genscher verabredet worden ist. Trotz mehrfacher Bemühungen von Genscher ist Außenminister Fischer nicht für ihn zu sprechen, noch nicht einmal telefonisch. Abflug von New York um 19 Uhr. Wir nehmen den ungarischen Außenminister Horn mit. Während des Fluges erreichen uns Drahtberichte, dass sich die Zahl der Deuutschen in unserer Vertretung in Prag auf 3.500 erhöht hat.
Samstag, 30. September 1989
Nachrichten
Außenminister Genscher eröffnet den mittlerweile 5.000 Flüchtlungen in der Botschaft in Prag, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen können.
Notizen von Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher
Wir besprechen das Szenario auf der Grundlage der mit DDR-Botschafter Neubauer in Bonn heute morgen um 11 Uhr getroffenen Absprache. Die Flüchtlinge in der Prager Botschaft werden mit Zügen, die von Prag über das Gebiet der DDR führen, nach Hof gebracht. Den ersten Zug wird Genscher begleiten, den nächsten Seiters. Den letzten Zug soll Staatssekretär Priesnitz übernehmen. Auf der Strecke soll es einen technischen Aufenthalt geben. Dann werden ostdeutsche Beamte den zug besteigen, den Flüchtlingen die Pässe abnehmen und ihnen Ausreisepapiere aushändigen. Das gleiche Verfahren wird für die Zufluchtssuchenden in der Botschaft Warschau gelten.
Als die Challenger in Köln/Wahn startklar gemacht wird, kommt ein Unteroffizier an die Maschine, der mitteilt, dass der Minister ans Telefon gerufen werde. Genscher folgt ihm. Nach seiner Rückkehr klärt er uns auf, dass die DDR sich in einem wichtigen Punkt nicht an die Abrede halte: Die Minister sollen die Züge nicht begleiten. Wir sind alle betroffen, weil wir ein Scheitern des Unternehmens befürchten. Wir starten gegen 17 Uhr.
18.30 Uhr Ankunft am Palais Lobkowicz. Wir treten in das Torgewölbe des Barockpalais. Es ist voller Menschen. Als sie unerwartet Genscher erkennen, bricht ein unbeschreiblicher Jubel los.
18.58 Uhr. Genscher tritt auf den Balkon. „Liebe Landsleute!“ beginnt Genscher. Ein Aufschrei der begeisterung. Als er zu dem heiklen Punkt kommt, dass die Züge über das Gebiet der DDR fahren werden, kippt die Stimmung radikal um. Genscher erklärt den Menschen, dass er sich für ihre Sicherheit verbürge. Er erläutert, dass die Züge von hohen Beamten der Bundesregierung begleitet werden. Die Menge reagiert mir Erleichterung. Es ist geschafft.
Wenig später schon beginnt der Abzug der ersten Flüchtlinge zu den Bussen, die die Botschaft der DDR bereitgestellt hat. Es gibt bewegende Szenen des Abschiednehmens von den Mitarbeitern der Botschaft.
Die Busse fahren zum Prager Vorstadtbahnhof Liben. Jansen und ich sollen den dritten Zug nach Hof begleiten. Der Zug ist bereits total überfüllt. Auf der anderen Seite des Bahnsteigs fährt der zug Bratislava-Prag ein. Während des kurzen Aufenthalts treffen etwa 50 DDR-Deutsche die Entscheidung, in unseren Zug umzusteigen.
Sonntag, 1. Oktober 1989
Nachrichten
Etwa 80 Oppositionelle kommen in der Samariterkirche in Berlin-Friedrichshain zusammen, um den „Demokratischen Aufbruch“ zu gründen. Die Polizei riegelt die Kirche ab, daraufhin beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheitsorganen. Am späten Nachmittag treffen sich 17 Personen in einer Wohnung, in der dann die Gründungsdokumente formuliert werden. Bewaffnete Sicherheitskräfte riegeln die Wohnung bis in die Nacht ab.
Schon einige Stunden nach der Abreise der DDR-Bürger treffen in Prag wieder mehrere hundert, in Warschau etwa 70 Ausreisewillige in den Botschaften der Bundesrepublik ein.
Veröffentlichungen
Notizen von Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher
Auf dem tschechoslowakischen Grenzbahnhof warten einige DDR-Bürger. Sie müssen irgendwie von der Prager Ausreisemöglichkeit erfahren haben. Polizisten bilden eine Absperrkette. Schließlich fasst sich eine Familie ein Herz und geht mit den Koffern auf den Zug zu, andere folgen. Hilfebereite Hände strecken sich ihnen entgegen, die sie in den Zug ziehen. Die tschechoslowakische Polizei greift nicht ein. Der Zug hält schließlich in Reichenbach. Das Bahnhofsgelände ist hermetisch von der Bahnpolizei abgesperrt. Etwa hundert Beamte der Staatssicherheit betreten den Zug. Sie gehen jeweils in Dreiergruppen in ein Abteil und nehmen den Menschen nach einem absurden System die Ausweise ab: Der erste nimmt den Ausweis ab, der zweite guckt hinein und der dritte steckt ihn in einen schwarzen Koffer. Es entsteht Unruhe. Die Stimmung gegen die Stasi-Beamten schlägt in Aggression um, als sich herausstellt, dass keine Ersatzpapiere bzw. Ausreisepapiere ausgestellt werden.
Ein Beamter der Reichsbahn nimmt seine rote Mütze ab und winkt den Flüchtlingen zu. Gleisarbeiter in ihren schwarzen Arbeitsanzügen folgen seinem Beispiel, sie winken mit ihren Schutzhelmen. Diese Geste der Solidarität eines Reichsbahn-Beamten in Gegenwart der Allmacht des Staates – massiv vertreten durch Bahnpolizei und Stasi – symbolisiert anschaulich die Brüchigkeit des Regimes. Der Zug fährt weiter. Bei der Fahrt durch Plauen stehen Hunderte von Menschen an den Fenstern ihrer Wohnkasernen und winken mit weißen Tüchern. Ein Transparent ist zu sehen: „Das Vogtland grüßt den Zug der Freiheit. Im Zug verbreitet sich eine Stimmung der Ergriffenheit.
Kurz vor der Grenze zur Bundesrepublik wird es noch einmal still. Der Zug fährt an kilometerlangen, perfekt installierten Sicherheitsanlagen vorbei. Als bei Gutenfürst der Zug den schwarz-rot-gold gestrichenen Grenzpfahl passiert, bricht ein unvorstellbarer Jubel los.
Montag, 2. Oktober 1989
Nachrichten
Innerhalb weniger Stunden hat sich die bundesdeutsche Botschaft in Prag wieder mit mehreren tausend DDR-Flüchtlingen gefüllt.
In Leipzig wird versucht, die Friedensgebete zu stören, indem sogenannte „gesellschaftliche Kräfte“ die Kirchen füllen, also treue Parteigänger, Funktionäre und Stasi-Leute. Um eine Woche vor dem Republiksgeburtstag eine erneute Montags-Demonstration zu verhindern, versuchen Sicherheitskräfte, die Menschen zu zerstreuen. Trotzdem gelingt es etwa 5.000 Personen, sich zu einem Demonstrationszug zu formieren und Richtung Hauptbahnhof zu ziehen. Die Polizei stürmt den Zug und versucht, ihn auseinanderzuprügeln, was ihr aber nicht gelingt. Die Demonstranten durchbrechen die Ketten und ziehen weiter.
Gleichzeitig formiert sich eine weitere Demonstration an der Thomas-Kirche, an der etwa 2.000 Menschen teilnehmen. Dieser zieht Richtung Markt, in dessen Nähe sich auch die Stasi-Zentrale befindet. Auch dieser Zug wird von Ordnungskräften angegriffen, die aber über eine Stunde brauchen, bis sie die Demonstration aufgelöst haben.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete „Heim-ins-Reich“-Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat. Bar jeder Verantwortung handeln Eltern auch gegenüber ihren Kindern, die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten offen standen.
Sie haben alle durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.
MfS Intern
Information über beachtenswerte Reaktionen von Antragstellern auf die Ablehnung der Anmeldung der Vereinigung „Neues Forum“
Nach dem MfS vorliegenden streng internen Hinweisen erklärten die Erst-Unterzeichner des Gründungsaufrufes mehrheitlich, ihre Aktivitäten zur Formierung des „Neuen Forums“ fortzusetzen. Unter Bezugnahme auf die gegenwärtige politische Situation und auf die angebliche Resonanz bei unterschiedlichsten Bevölkerungskreisen in der DDR auf den Gründungsaufruf spekulieren sie darauf, dass bei Weiterführung entsprechender Aktivitäten keine strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Initiatoren eingeleitet würden, da dies ihrer Meinung nach eine „breite Protestwelle“ in der DDR und im Ausland zur Folge hätte.
Dienstag, 3. Oktober 1989
Nachrichten
Die DDR schließt die Grenzen zur Tschechoslowakei, um damit eine weitere Flucht von Bürgern zu verhindern. Die Maßnahme wird als „zeitweilig“ bezeichnet. Insgesamt werden an diesem Tag mehr als 2.000 DDR-Bürger nicht in die CSSR durchgelassen. Allein auf dem Hauptbahnhof Dresden werden etwa 800 DDR-Bürger aus mehreren Zügen nach Prag herausgeholt. Daraufhin besetzen diese die Gleise und Bahnsteige. Die Polizei geht gewaltsam gegen die Besetzer vor, die ihre Aktionen dann auf die Innenstadt ausweiten. An mehreren Stellen des Stadtgebietes werden die Gleise besetzt, so dass der gesamte Zugverkehr für mehrere Stunden unterbrochen wird.
In den folgenden Nachtstunden finden ebensolche Aktionen auch außerhalb Dresdens statt, unter anderem in Freiberg und Zwickau und an sämtlichen nach Süden führenden Strecken. Der Bahnhof Karl-Marx-Stadt wird von etwa 120 Personen blockiert.
Mittwoch, 4. Oktober 1989
Nachrichten
Die Grenze von der DDR zur CSSR und nach Polen wird komplett kontrolliert. Währenddessen sind in den Sonderzügen zwischen 7.600 und 11.000 DDR-Bürgern in die Bundesrepublik gekommen.
Bei der Durchfahrt eines der Züge durch den Hauptbahnhof Dresden kommt es in der Nacht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. 20.000 Menschen stürmen den Bahnhof, die Polizei geht mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen sie vor. Teile der NVA in Dresden werden in Alarmbereitschaft gesetzt und erhalten scharfe Munition ausgehändigt.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Erich Honecker: Mit Genugtuung, ohne Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit, können wir am heutigen Tage feststellen, dass es gelang, eine Gesellschaft aufzubauen, der trotz steigender Arbeitsproduktivität Massenarbeitslosigkeit fremd ist. Obwohl unser Wohnungsbauprogramm noch zu vollenden ist, gibt es bei uns keine Obdachlosen. Es gibt zum Glück keine Drogenmafia, keinen Babyhandel, wie er in der BRD Usus ist. Soziale Sicherheit und Geborgenheit gehen bei uns Hand in Hand mit der Mehrung der materiellen Werte. Gerade jetzt glaubt die BRD, die DDR aus den Angeln heben zu können. Daraus wird allerdings nichts.
Donnerstag, 5. Oktober 1989
Nachrichten
Um die Wartenden an der Route der Botschaftszüge aus Prag zu täuschen, werden einige Flüchtlingszüge umgeleitet, andere passieren gegen 1.30 Uhr auf einem Außengleis in hoher Geschwindigkeit den Hauptbahnhof Dresden.
Bericht eines festgenommenen Buchhändlers
Klar ist, dass die Volkspolizei zuim Schutz der Bürger da ist. Klar ist auch, dass es am Hauptbahnhof ernste Ausschreitungen gegeben hat, eben auch gegen die Polizei. Ernstes Befremden löst jedoch die Behandlung der Zugeführten in den Räumen der Kasernen der Bereitschaftspolizei Dresden aus.
Dorthin wurden wir zunächst verbracht. Wir wurden angebrüllt, mussten einzeln, mit den Händen im Nacken, den LKW verlassen, wurden an die Wand geprügelt, dort zunächst, mit dem Kopf an der Wand, die Hände im Nacken, die Beine gespreizt und den Körper in Schräglage zur Wand hin, stehen gelassen. Auf Einwände, dass man doch nichts getan hatte, folgten Beschimpfungen und wieder Prügel. Die herabwürdigende Behandlung gipfelte in der Bemerkung eines Polizisten: „Nanu, Inder haben wir wohl auch schon?“, beim Anblick eines 16-jährigen Jungen, der mit einem Kopfverband im kalten Flur sitzen musste.
Alle Fragen nach einem verantwortlichen Offizier, dem man das Missverständnis hätte erklären können, blieben unbeantwortet. Statt dessen gab es Hinweise wie: „Wären Sie doch zu hause geblieben“ oder „Was treiben Sie sich auch nachts auf der Straße rum?“. Ich selbst z.B. kam mit meiner Freundin von einer Geburtstagsfeier und war auf dem Heimweg.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Von DDR-Bürgern wird die Frage gestellt, was mit den frei gewordenen Wohnungen geschieht, deren bisherigen Bewohner illegal die DDR verlassen haben. Gelegentlich wird verbreitet, dass derartige Wohnungen etwa für einen Zeitraum von einem Jahr freigehalten würden. Wie von zuständiger Stelle verlautet, gibt es eine solche Regelung nicht. Den örtlichen Organen wird anheim gestellt, frei gewordene Wohnungen umgehend an neue Mieter, die daran Interesse haben, zu übergeben.
Leipziger Volkszeitung
Brief einer Kampfgruppen-Hundertschaft:
Die Genossen meiner Einheit verurteilen die konterrevolutionären Machenschaften jeden Montag in Leipzig. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie Feinde unserer DDR nicht genehmigte Demonstrationen durchführen und unsere öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden. Diese Unruhestifter versuchen im 40. Jahr unserer Republik, den Aufbau und die Errungenschaften mit organisiertem Krawall zu schmälern und die Menschen zu verunsichern.
Berliner Zeitung
In Übereinkunft mit der Regierung der CSSR hat die Regierung der DDR entschieden, die Personen, die sich widerrechtlich in der Botschaft der BRD in Prag aufhalten, über das Territorium der DDR in die BRD auszuweisen. Dabei ließ sie sich vor allem von der Lage der Kinder leiten, die von ihren Eltern in eine Notsituation gebracht worden sind und die für deren gewissenloses Handeln nicht verantwortlich gemacht werden können.
MfS Intern
Erich Mielke an die Leiter der Diensteinheiten
In den Reisezüge nach der CSSR werden verstärkt Angehörige der Transportpolizei sowie anderer Kräfte der VP zur Unterbindung der Ausreise von Bürgern der DDR zu den Grenzübergangsstellen an der Staatsgrenze der DDR zur CSSR eingesetzt.
Zur zuverlässigen Gewährleistung des Schutzes der Staatsgrenze der DDR zur CSSR und zur VR Polen sind des weiteren durch die Leiter der zuständigen Diensteinheiten folgende Maßnahmen durchzuführen:
Gewährleistng des durchgehenden und abgestimmten Einsatzes der IM/GMS mit dem Ziel, potentielle Grenzverletzer, die sich dem Grenzvorfeld nähern bzw. sich darin bewegen oder aufhalten, festzustellen und deren Zuführung zu veranlassen.
Mittwoch, 6. Oktober 1989
Nachrichten
Michael Gorbatschow landet, zwei Tage vor dem 40. DDR-Geburtstag, auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Seine Fahrt in die Stadt wird von über 300.000 (!) Sicherheitsleuten oder Parteimitgliedern aus der gesamten DDR gesichert. Diese sollen verhindern, dass sich Oppositionelle und andere Bürger dem sowjetischen Staatsgast nähern, der für viele in der Bevölkerung eine große Hoffnung darstellt. Bei einem ersten Gespräch mit Journalisten sagt Gorbatschow: „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Bei einem späteren Treffen mit der Parteiführung wird er auch den berühmt gewordenen Satz sagen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
In Dresden wird nach der Theateraufführung im Kleinen Haus eine Erklärung verlesen: „Wir treten aus unseren Rollen heraus. Die Situation zwingt uns dazu. Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft. Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an , gewalttätig zu werden. Die Wahrheit muss an den Tag.“
In Leipzig erklärt der Historiker Kurt Nowak vor einer Vorlesung: „Was wird an diesem Wochenende geschehen? Wie wird der Staat mit seinen Machtmitteln – und diese sind groß – auf seine zum Bleiben und Umgestalten entschlossenen Bürger reagieren? Derzeit werden außerhalb Leipzigs Kampfgruppen zu Übungen zusammengezogen. Wird dieses Land auf dem schmalen Grat zwischen Erstarrung, Veränderung und Chaos zu wanderen vermögen?“
Veröffentlichungen
Leipziger Volkszeitung
Die Angehörigen der Kampfgruppe „Hans Geiffert“ verurteilen, was gewissenlose Elemente seit einiger Zeit in der Stadt Leipzig veranstalten. Wir sind dafür, dass die Bürger christlichen Glaubens in der Nähe der Nikolaikirche ihre Andacht und ihr Gebet verrichten. Wir sind dagegen, dass diese kirchliche Veranstaltung missbraucht wird, um staatsfeindliche Provokationen gegen die DDR durchzuführen. Wir fühlen uns belästigt, wenn wir nach getaner Abreit mit diesen Dingen konfrontiert werden. Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu unterstützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand.
Samstag, 7. Oktober 1989
Nachrichten
Während im Berliner Palast der Republik der Festakt zum 40. DDR-Geburtstag stattfindet, entwickelt sich aus einer Menschenansammlung auf dem Alexanderplatz eine Demonstration, die zum Republikpalast zieht. Unmittelbar an der Spreebrücke riegelt die Polizei die Straße ab und zwingt die Demonstranten, in Richtung Prenzlauer Berg abzuziehen. Auf dem Weg gibt es immer wieder Überfälle durch Gruppen von Stasi-Leuten, die sich einzelne Demonstranten herausgreifen und zusammenschlagen. Auf der Danziger Straße versuchen FDJ-Ketten, den Zug von mittlerweile mehreren tausend Berlinern zu stoppen, daraufhin kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Polizei, FDJ, Betriebs-Kampfgruppen und Stasi versuchen, die Menschen zu zerstreuen, stattdessen beteiligen sich immer mehr Personen an den Protesten, die ihr Zentrum rund um die Gethsemane-Kirche finden. Bis in die Nacht hinein gehen die Sicherheitskräfte mit Knüppeln und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor, die von Bewohnern der angrenzenden Häuser unterstützt werden. Die Polizei stürmt einzelne Wohnungen, doch die Rufe wie „Gorbi, Gorbi“ und „Freiheit“ verstummen erst spät in der Nacht, als mehrere hundert Menschen verhaftet worden sind.
Diese Festgenommenen werden teilweise noch tagelang in einem Sonderlager am Blankenburger Pflasterweg in Weißensee festgehalten und dort sowie in Rummelsburg misshandelt.
Staatsgäste, wie der rumänische Präsident Nicolae Ceausescu müssen komplizierte Umwege fahren, da die vorgesehenen Routen durch Demonstranten belagert sind.
Das Stadtjugendpfarramt richtet noch in der Nacht ein Kontakttelefon ein, um Meldungen über Verhaftungen und Übergriffe zu sammeln. Die Presse erhält die Order, über die Proteste nicht zu berichten. Stattdessen dürfen sich die Fernseh-Zuschauer an einer erneuten zweistündigen Übertragung des FDJ-Fackelzuges vom Vortag erfreuen, die sofort danach nochmal wiederholt wird.
Im brandenburgischen Schwante trifft sich eine geheime Versammlung von Menschen, die die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei („SDP“) beschließen. Teilnehmer sind unter anderem Markus Meckel und Manfred „Ibrahim“ Böhme, der später Vorsitzender der Ost-SPD wird und dann als Stasi-Spitzel entlarvt wird.
In Dresden kommt es gegen den Widerstand der Staatssicherheit zu einem ersten Versuch einer „Sicherheits-Partnerschaft“ zwischen der Polizei und Demonstranten.
Veröffentlichungen
Der Dichter Thomas Rosenlöcher im „Dresdner Tagebuch“
Einem polizisten, der allein in die Menge geriet, soll schlimm mitgespielt worden sein.
An den halbstündigen Nachrichten hängen wie am Tropf. In die Stadt fahre ich nicht. Heute wird nichts sein, sage ich, hoffe ich, aber in Wirklichkeit hat nur die Angst die Oberhand gewonnen. Alte Kinderängste. Ich erinnere mich der gedämpften Stimmen der Erwachsenen am 17. Juni und dass ich einen Nachmittag bei der Nachbarin bleiben musste. Schon damals war einer meiner Traumgrundmotive das Bild meines Vaters, der, in irgendein Gestell eingeklemmt, sich gequält nach oben krümmte. Dann die ungarische Stimme im Radio: „Helft uns doch, helft uns doch.“ Damals war ich sechs Jahre alt.
Sonntag, 8. Oktober 1989
Nachrichten
Die Proteste im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg setzen sich fort. In der Gegend um die Gethsemanekirche an der Stargarder Straße nehmen Sicherheitskräfte über 1.000 Personen fest. An der Zuführungsorten kommen es zu exzessiver Gewalt, die von einigen Betroffenen als Folter bezeichnet wird.
In Dresden kesseln Sicherheitsorgane mehrere tausend Demonstranten ein. Durch das besonnene Eingreifen einiger Geistlicher entspannt sich die Lage, zwanzig Demonstranten werden ausgewählt, die am nächsten Tag mit der Parteiführung verhandeln sollen. Oberbürgermeister Berghofer stimmt nach einem Gespräch mit Hans Modrow einem Gespräch mit der „Gruppe der Zwanzig“ zu.
In Leipzig werden die Bürger aufgefordert, die Innenstadt zu meiden. Gerüchte über bereitgestellte Krankenhausbetten und Blutkonserven gehen um. Honecker schickt Telegramme an alle Bezirksverwaltungen, dass weitere Krawalle von vornherein zu unterbinden seien.
Veröffentlichungen
Bericht von Regisseur Thomas Heise
Gegen 22.30 Uhr fuhr ich mit dem Zug im Bahnhof Alexanderplatz ein. Durch die Fenster sah ich entlang des Bahnsteiges Mann an Mann Polizei stehen. Ich öffnete die Wagentür. Mehrere der den Bahnsteig absperrenden Polizisten riefen: „Drinbleiben!“
Ich hielt meinen Ausweis gegen die Glasscheibe und rief, ich müsse hier aussteigen, weil ich hier wohne. Von rechts kam ein Leutnant und nahm mir meinen Personalausweis aus der Hand, sah kurz hinein und sagte dann: „Steigen Sie aus, ich zeige Ihnen, wo es lang geht.“ Ich stieg aus. Er zeigte nach rechts. „Gehen Sie, gehen Sie“, sagte der Leutnant, nahm meinen Personalausweis aus der Hülle und sagte: „Das haben Sie alles vorher gewusst.“ Dann gab er mir die leere Ausweishülle. Oben an der Treppe zur U-Bahn standen zwei LKWs. Der Leutnant griff mich am linken Oberarm, führte mich an die Ladefläche und sagte: „Rauf!“
Wir hielten vor dem Polizeirevier Albert-Norden-Straße in Hellersdorf. Ich stand von dreiviertel eins bis zum Morgen um zehn in dieser Garage. Die gebrüllten Sätze: „Wollen Sie eine Sonderbehandlung?“, „Schiffen Sie sich in die Hose oder schwitzen Sie es sich aus den Rippen“. „Hier herrscht Ruhe“. „Köpfe zur Wand“. „Verstehen Sie kein Deutsch?“ „Das haben Sie alles vorher gewusst.“
Montag, 9. Oktober 1989
Nachrichten
In Leipzig herrscht eine angespannte Atmosphäre, da nun, nachdem der Republik-Geburtstag vorüber ist, mit einem härteren Durchgreifen der Sicherheitsorgane gerechnet wird. Tatsächlich gibt es einen Einsatzplan, der ein bewaffnetes Vorgehen gegen die Demonstranten vorsieht. Allen ist klar, dass es diesmal eine Entscheidung geben wird – eine gewaltsame Zerschlagung der Proteste oder ein endgültiges Zurückweichen der Staatsmacht.
Trotz der Gefahr nehmen diesmal 70.000 Menschen an der Demonstration um die Innenstadt teil. Über Lautsprecher wird ein Aufruf verlesen, der u.a. vom Dirigenten Kurt Masur und dem SED-Sekretär unterzeichnet wurde. Sie rufen darin zur Besonnenheit und zum Gewaltverzicht auf. Der Aufruf richtet sich sowohl an die Demonstranten, als auch an die Sicherheitsorgane. Obwohl es an mehreren Orten zu Prügeleien von Kampfgruppen kommt, bleibt die Lage insgesamt ruhig. Damit ist das Eis gebrochen, dieser Tag hat für die Zukunft eine wichtige Bedeutung.
In Dresden finden in mehreren Kirchen sowie in der Kathedrale Informations-Veranstaltungen statt, die wegen des Andrangs jeweils wiederholt werden müssen und an denen – nach offiziellen Angaben – etwa 22.000 Personen teilnehmen.
MfS Intern
Information über die weitere Formierung DDR-weiter oppositioneller Sammlungsbewegungen
Es ist festzustellen, dass bei öffentlichen Ankündigungen von Veranstaltungen in kirchlichen Räumen zur Thematik „Neues Forum“ (auch bezogen auf andere oppositionelle Sammlungsbewegungen) eine überdurchschnittliche Besucher-Resonanz erreicht wird und Teilnehmerzahlen zwischen 1.000 und 2.000 Personen nicht selten sind. So musste z.B. eine am 4. Oktober 1989 in einer Kirche in Potsdam-Babelsberg vorgesehene Veranstaltung, zu der erfahrungsgemäß 100 bis 150 Personen erwartet wurden, wegen des Erscheinens von fast 3.000 Interessenten zweimal wiederholt werden. In einigen Fällen, so u.a. in Leipzig und Magdeburg, waren derartige themenbezogene Veranstaltungen in kirchlichen Räumen – ungeachtet wiederholter Erklärungen und Appelle von Inspiratoren / Organisatoren des „Neuen Forums“, zur Besonnenheit und Vermeidung von Gewalt – Ausgangspunkte für anschließende öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktivitäten.
Streng intern vorliegenden Hinweisen zufolge bemühen sich Kräfte von „Solidarnosc“ um Kontakte zum Führungskreis des „Neuen Forums“.
Dienstag, 10. Oktober 1989
Nachrichten
Im der Sitzung des Politbüros bricht der Machtkampf auf. Eine Gruppe um Egon Krenz will Honecker stürzen. Sie geben zu, dass die Ursachen der Ausreisewelle in der DDR zu suchen sind und dass es Veränderungen sowie einen Dialog geben müsse. Die Erklärung der Gruppe wird nach einer turbulenten Sitzung angenommen. Honecker betrachtet sie als „Kapitulations-Erklärung“. Als Gegenangriff kündigt er Maßnahmen gegen die Fälschung der Kommunalwahlen an, was sich gegen Egon Krenz als damaligen Vorsitzenden der Wahlkommission richtet.
Veröffentlichungen
Politbüro-Mitglied Gerhard Schüler
Erklärung zur entstandenen Lage. Auch zu früheren Jahrestagen. Gegner wird trommeln. Macht er auch heute. Sonst verstehen uns viele im Volk nicht. Feinde und Mitläufer unterscheiden. 139.726 sind ausgereist. Verlust an qualifizierten Arbeitskräften. Manchen weinen wir Tränen nach. Es sind nicht nur Ganoven weggegangen.
MfS Intern
Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptverwaltung I
In den Reaktionen von Soldaten gibt es erste Anzeichen für Zweifel an der Angemessenheit des Einsatzes von Armeekräften. Sie empfinden diesen gegenüber dem „Mob“ gerechfertigt, sehen sich nun jedoch zunehmend mit „friedlichen Demonstranten“ konfrontiert, mit denen man ihrer Meinung nachreden sollte.
Mittwoch, 11. Oktober 1989
Nachrichten
In den Medien der DDR beginnt ein vorsichtiger Wandel: Die Zeitungen „Junge Welt“, „Neue Zeit“ und „Tribüne“ drucken kritische Leserbriefe ab. Das „Neue Deutschland“ bleibt jedoch auf Linie.
Das Politbüro veröffentlicht eine Erklärung und bedauert erstmals die Flucht von DDR-Bürgern. Aus dem ADN-Text vom 2. Oktober mit dem Honecker-Zusatz „Man sollte ihnen keine Träne nachweinen“ wird nun die Formel „Der Sozialismus braucht Jeden.“
Das „Komitee für Unterhaltungskunst“ veröffentlicht eine Erklärung:
„Unterhaltungskünstler sind schon von Berufs wegen mehr mit der Lage im Lande, der Stimmung der Bevölkerung vertraut, als Andere. Wir bemerken, dass der Widerspruch zwischen dem Bild der DDR in den nationalen Medien und den sozialen und individuellen Erfahrungen des Publikums immer eklatanter wird.“
Erklärung eines Hallenser Bürgers: Gegen 19 Uhr [am 9.10.89] waren von mehreren Seiten des Marktplatzes Stimmen über Megaphon zu hören, die vermutlich zum Verlassen des Platzes aufforderten. Plötzlich begannen sich Gruppen von Schutzpolizisten im Laufschritt auf Gruppen von Bürgern oder auf Einzelne zuzubewegen. Von Seiten der Polizei kam es nun in wenigen Minuten zu einer schrecklichen Eskalation. Bürger, die laut riefen „Hört auf!“ wurden im Würgegriff zu einer Robur-Einsatzwagen gebracht und verladen. Circa 200 Menschen, die nun in Ricntung Gottwaldstraße liefen, wurden von Polizisten weitergetrieben, zum Teil eingeholt und mit Schlagstöcken angegriffen. Dies geschah völlig wahllos und mit äußerster Härte.
Aus einer SED-Information für die Bezirksleitungen: Auch hauptamtliche Parteifunktionäre sind äußerst befremdet darüber, dass in den Westmedien und in der Presse von Blockparteien über Maßnahmen des Dresdener Oberbürgermeisters und Leiupziger Parteifunktionäre berichtet wird, während unsere Medien darüber schweigen und die Partei dazu keine Orientierung gibt, was Verwirrung und Unsicherheit auslöst.
Donnerstag, 12. Oktober 1989
Nachrichten
Egon Krenz verständigt sich mit den Mitgliedern des Politbüros Lorenz und Schabowski, den Sturz Honeckers vorzubereiten.
Mitarbeiter der DDR-Nachrichtenagentur ADN weigern sich, angeordnete Meldungen zu verfassen, in denen die Demonstranten „Randalierer“ genannt werden.
Die Akademie der Künste und der Kulturbund fordern eine offene Medienpolitik, tolerante Behörden und Untersuchung der Massenflucht.
Veröffentlichungen
Berliner Zeitung
[Aus einer Erklärung des Politbüros] Der Sozialismus braucht Jeden. Er hat Platz und Perspektive für Alle. Er ist die Zukunft der heranwachsenen Generationen. Gerade deshalb lässt es uns nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgelöst haben. Viele von ihnen haben die Geborgenheit der sozialistischen Heimat und eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder preisgegeben. Die Ursachen für ihren Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, Jeder an seinem Platz, wir alle gemeinsam.
Neues Forum [Flugblatt]:
Das Neue Forum begrüßt die Verlautbarungen des Politbüros des ZK der SED als erstes Zeichen, sich mit den angestauten und teifgreifenden Problemen der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der echte gesellschaftliche Dialog hat auf allen Ebenen gewaltfrei zu erfolgen, bei Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der DDR, bei strikter Abweisung aller rechtsradikaler und faschistischer Haltungen, auf dem Boden der Verfassung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
In der Ost-Berliner Volksbühne gab es einen Tag nach der oppositionellen Massen-Demonstration in Leipzig Gelächter und Beifall im Zuschauerraum, als der Landvogt Geßler in Schillers „Wilhelm Tell“ rief: „Was läuft das Volk zusammen, treibt sie auseinander! Schafft das freche Volk mir aus den Augen.
Tell kecken Geist der Freiheit will ich beugen.“ Tell wird von einer Soldateska mit Gummiknüppeln niedergeschlagen. Er rächt sich und schießt von der Balustrade eines Schlossportals, das dem am Staatsratsgebäude täuschend ähnlich sieht, auf den im dunklen Anzug mit Schlips und Kragen schwadronierenden Geßler und ruft: „Fort muss er, seine Uhr ist abgelaufen!“
Wieder großer Szenenbeifall.
Mittwoch, 13. Oktober 1989
Nachrichten
Bis jetzt sind 45.000 DDR-Bürger über Ungarn, Prag und Warschau geflohen. Nach westlichen Informationen sollen etwa eineinhalb Millionen Ausreiseanträge vorliegen.
Honecker trifft sich mit den Vorsitzenden der Block-Parteien. Er will am Führungsanspruch der SED festhalten.
Samstag, 14. Oktober 1989
Nachrichten
Nach dem großer Erfolg der Montags-Demonstration in Leipzig plant das Neue Forum nun eine größere Kundgebung in Berlin. Für die zum 4. November geplante Demonstration sollen vor allem Künstler gewonnen werden.
Veröffentlichungen
Demokratie Jetzt [Erste Ausgabe der Zeitung der gleichnamigen Oppositions-Gruppe]
Wir schlagen Ihnen vor, Verbindung zu gleichgesinnten Gruppen in Ihrer Nachbarschaft zu suchen. Organisieren Sie Treffen in den Stadtbezirken und Kreisen. Wählen Sie Sprecherinnen und Sprecher. Entsenden Sie Vertreter zu überregionalen Veranstaltungen. Wir verstehen uns als Bewegung, an der sich jeder durch Mitarbeit ohne formelle Mitgliedschaft beteiligen kann. Zusammen mit anderen demokratischen Initiativen machen wir uns Gedanken um ein gemeinsames Wahlprogramm. Ein solches Programm soll von einer repräsentativen Versammlung beschlossen werden. Sie wird Kandidaten nominieren und den Anspruch auf Beteiligung an den bevorstehenden Volkskammerwahlen erheben.
Erklärung der Gewerkschaftsgruppe Fernsehdramatik:
Als die Fluchtwelle begann und über unser Medium von Verrätern, denen wir „keine Träne nachweinen“, gesprochen wurde, haben wir geschwiegen. Als sich in unzähligen Resolutionen und Willenserklärungen verantwortungsbewusste Bürger zu Wort meldeten, haben wir geschwiegen. Als Gewalt gegen Gewalt lief, schwiegen wir, und als an dem Abend, als sich 70.000 Bürger in Leipzig Zehntausende anderswo versammelten und in der AKtuellen Kamera die Demonstranten als „ferngesteuerte Krawallmacher“, die den Sozialismus abschaffen wollen, verlogen reduziert wurden, schwiegen wir.
Jetzt ist es höchste Zeit, dass wir unsere Stimme erheben. Es darf nicht so sein, dass wir in absehbarer Zeit Nutznießer von Reformen sind, die andere für uns miterkämpft haben.
Sonntag, 15. Oktober 1989
Nachrichten
In Halle und Plauen finden größere Demonstrationen des Neuen Forums statt.
Die Teilnehmer des Treffens der Berliner Theaterschaffenden protestieren gegen die gesetzwidrige Behandlung der Festgenommenen von 7. und 8. Oktober. Sie fordern eine öffentliche Untersuchung und schicken diese Forderung u.a. auch an den Ministerrat und den Generalstaatsanwalt. Es wird bekannt, dass an diesem Tag die letzten Inhaftierten des 7./8. Oktober freigelassen wurden.
Am Abend geben Rockgruppen und andere Musiker in der völlig überfüllten Erlöserkirche in Berlin ein Benefizkonzert für die Opfer der Übergriffe. Auf der Veranstaltung wird auch aus Gedächtnis-Protokollen der Opfer zitiert, wobei zum ersten Mal bekannt wird, dass die Stasi auch Geruchsproben der Inhaftierten genommen hat. Bei der Veranstaltung wird zur Teilnahme an der Demonstration am 4. November aufgerufen.
Der Schriftsteller Christoph Hein fordert den Einsatz eines Untersuchungs-Ausschusses für den „offenbar gelenkten Exzess der Sicherheitskräfte.“
Ein SED-Abgeordneter meldet sich zu Wort: „Beruhigt Euch nicht. Wir haben wahrscheinlich nur diesen einen Versuch. Wenn wir scheitern, verlieren wir Hunderttausende, durch Ausreise oder durch innere Emigration. Handelt gewaltfrei! Redet mit Allen. Auch mit den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern. Grenzt sie nicht von vornherein aus, viele von ihnen haben mit dazu beigetragen, dass jetzt Hoffnung ist.“
Der Liedermacher Kurt Demmler über das Dialogverständnis von ZK-Sekretär Kurt Hager: „Ein bisschen reformeln und dialogeln, da hat man gut normeln, da hat man gut mogeln.“
MfS Intern
Information über einige beachtenswerte Erscheinungen in den Kampfgruppen der Arbeiterklasse im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Lageentwicklung
Zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wurden im Zeitraum des 40. Jahrestages der Gründung der DDR und im Zusammenhang mit der Abschiebung von ehemaligen DDR-Bürgern ca. 3.500 Angehörige der Kampfgruppen der Arbeiterklasse im Rahmen von Sicherungs-Einsätzen direkt zum Einsatz gebracht und weitere 7.100 in Bereitschaft versetzt.
In verschiedenen Einheiten kam es im Verlaufe der Einsätze zu die Kampf- und Einsatzbereitschaft sowie den politisch-moralischen Zustand beeinträchtigenden Vorkommnissen, Handlungen und Erscheinungen.
Das findet seinen Ausdruck vor allem in
• der Ablehnung des vorgesehenen Einsatzes durch einzelne Kollektive und Kämpfer,
• Austrittserklärungen aus der SED und den Kampfgruppen sowie
• der Verweigerung von Befehlen.
Nach bisher vorliegenden Hinweisen erklärten z.B. 188 Kämpfer ihren Austritt aus den Kampfgruppen der Arbeiterklasse und 146 Kämpfer lehnten nach Erteilung des Einsatzbefehls dessen Durchführung ab. Im Kreis Plauen haben 115 Kampfgruppen-Angehörige ihren Austritt aus der Kampfgruppe mündlich und zum Teil schriftlich erklärt.
Nach bisher vorliegenden ersten Erkenntnissen liegen derartige Erscheinungen vor allem folgende Ursachen, Motive und begünstigende Bedingungen zugrunde:
• Unzureichende Vorbereitung der Kämpfer auf eine mögliche Konfrontation mit feindlichen, oppositionellen Kräften im Innern der DDR
• ungenügende Einweisung der Kämpfer in die im Territorium entstandene Lage
• Angst, gegen die Bevölkerung „Zwangsmaßnahmen“ durchführen zu müssen, die zu Repressalien gegen sie oder ihre Familienangehörigen führen könnten
• Ablehnung des Einsatzes in Zivil, mit Schlagstock und Bauarbeiterhelm
• Auswirkungen feindlich-negativer Einflüsse, u.a. die Solidarisierung mit Forderungen der oppositionellen Bewegung „Neues Forum“ in einzelnen Fällen.
Montag, 16. Oktober 1989
Nachrichten
An der Montags-Demonstration in Leipzig nehmen diesmal 150.000 Menschen teil. Das DDR-Fernsehen und die staatliche Nachrichten-Agentur ADN berichten.
Egon Krenz informiert Generaloberst Streletz, der den verreisten Verteidigungs-Minister Keßler vertritt, über die bevorstehende Entmachtung Honeckers. Der Gewerkschafts-Vorsitzende Harry Tisch informiert Gorbatschow in Moskau über den bevorstehenden Machtwechsel. Gorbatschow wünscht ihm angeblich „viel Glück“.
MfS Intern
Information des Leiters der MfS-Bezirksverwaltungen über Probleme beim Einsatz:
Bei der konkreten Einweisung der Kampfgruppen-Angehörigen des VEB Nachrichten-Elektronik Arnstadt waren von 120 Kämpfern 30 für den Einsatz bereit, 5 Kämpfer lehnten den Einsatz ab, die übrigen gaben Entschuldigungen an, wie verreist, Geburtstag, Handwerker im Haus.
Dienstag, 17. Oktober 1989
Nachrichten
Tagung des Politbüros. Stasiminister Mielke verhindert, dass Erich Honecker seinen Personenschutz zu Hilfe holen kann, um seine Widersacher festzunehmen. Willi Stoph stellt den Antrag, Honecker von seinen Funktionen abzulösen. Keiner der Anwesenden stellt sich hinter Honecker. Egon Krenz erklärt seine Bereitschaft, die Verantwortung zu übernehmen. Bei der Abstimmung stimmt Honecker seinem eigenen Sturz zu. Bei der Abstimmung über die Ablösung von Mittag und Herrmann stimmen auch diese dem Antrag zu.
Erich Honecker ist „tief getroffen, dass der Vorschlag von Stoph kam“. Er warnte davor zu glauben, dass mit sener Ablösung die inneren Probleme gelöst würden: „Der Feind wird weiter heftig arbeiten. Nichts wird beruhigt werden. Das Auswechseln von Personen zeigt, dass wir erpressbar sind. Der Gegner wird das ausnutzen. Hier haben Genossen gesprochen, von denen ich das nie erwartet habe. Ich sage das nicht als geschlagener Mann, sondern als Genosse, der bei bester Gesundheit ist.“
Das Politbüro beschließt, Krenz als neuen Generalsekretär vorzuschlagen. Die 9. Tagung des ZK wird vom November auf den folgenden Tag vorgezogen.
Der Gewerkschafts-Vertrauensmann des Deutschen Theaters in Berlin, Wolfgang Holz, stellt den Antrag, die Demonstration am 4. November zu genehmigen.
Mittwoch, 18. Oktober 1989
Nachrichten
Auf der vorgezogenen Tagung des Zentralkomitees der SED tritt Erich Honecker von allen Funktionen zurück. Er schägt Egon Krenz als Nachfolger vor. Am Abend tritt Krenz im DDR-Fernsehen auf und vergeigt seine Ansprache schon mit dem ersten Satz: „Liebe Genossinnen und Genossen.“ In diesem Stil geht die gesamte Rede weiter, die ihre beabsichtigte Wirkung meilenweit verfehlt.
In dieser Rede an die Bevölkerung gebraucht Krenz erstmals öffentlich den Begriff „Wende“ und bedauert die Ausreisewelle als „Wunde, die noch lange schmerzen wird“.
Veröffentlichungen
Aus dem später veröffentlichten Protokoll der ZK-Sitzung
Erich Honecker: „Infolge meiner Erkrankung und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke der Partei und des Volkes heute und künftig verlangen. Deshalb bitte ich das Zentralkomitee, mich von der Funktion des Generalsekretärs des ZK, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates zu entbinden. Die Gründung und erfolgreiche Entwicklung der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik, deren Bilanz wir am 40. Jahrestag gemeinsam gezogen haben, betrachte ich als die Krönung des Kampfes unserer Partei und meines Wirkens als Kommunist.“
Willi Stoph: „Der Genosse Erich Honecker bittet um Verständnis, dass er aufgrund seines angegriffenen Gesundheitszustands nicht weiter an der Tagung des Zentralkomitees teilnehmen kann. Dem Zentralkomitee wird vorgeschlagen, dem Genossen Erich Honecker für sein politisches Lebenswerk, das dem Kampf für Frieden und Sozialismus gewidmet ist, den herzlichen Dank, verbunden mit den allerbesten Wünschen, auszusprechen.“
Es folgt ein stürmischer Beifall. Honecker geht durch den Saal zum Ausgang. Die Mitglieder und Kandidaten des ZK erheben sich von den Plätzen. Anhaltender, stürmischer Beifall, bis Honecker den Saal verlassen hat.
Willi Stoph: „Es gibt den einstimmigen Vorschlag des Politbüros, den Genossen Egon Krenz zum Generalsekretär des Zentralkomitees zu wählen. Wer dafür ist, bitte ich um das Handzeichen. – Danke schön. Gegenstimmen? – Keine. Stimmenthaltungen? – Auch keine.“
Moritz Mebel: „Ich möchte eine Erklärung des Polibüros haben, warum die beiden Genossen aus dem Polibüro abberufen werden. Was sind die Ursachen?“
Willi Stoph: „Weil sie ihren Anforderungen nicht gerecht wurden, wie im Politbüro festgestellt wurde. Genügt das?“
Moritz Mebel: „Das genügt mir.“
Donnerstag, 19. Oktober 1989
Nachrichten
Nach dem Sturz Honeckers und der „offiziellen Einleitung“ der „Wende“ werden einige Maßnahmen getroffen, die der Bevölkerung Veränderungen signalisieren sollen. So wird die „zentrale Anleitung“ der Medien, also die Zensurbehörde des Sekretärs für Agitation in der SED-Führung, abgeschafft. Im Radio und Fernsehen finden erstmals Live-Diskussionen statt.
In Zittau nehmen etwa 20.000 Menschen an einer Kundgebung des Neuen Forums teil. Der Rat der Stadt genehmigt Lautsprecher-Übertragungen.
In Berlin versuchen SED-Funktionäre, die für den 4. November geplante Demonstration zu verhindern, indem sie einzelne Organisatoren unter Druck setzen.
Veröffentlichungen
Leipziger Volkszeitung
Diskussion mit 18-Jährigen Oberschülern in Leipzig
Was bewegt Euch in diesen Tagen am meisten?
Ulrike: Die Montagsdemos in Leipzig, die vielen Ausreisen. Mein Bruder ist zu Jahresbeginn gegangen. mit Antrag. Der ist 27. Er sagt, er hat’s hier lange genug versucht. In seinem Betrieb gab’s oft kein Material. Da konnte eben keiner arbeiten. Jetzt ist er drüben, hat Arbeit.
Anja: Ich hab mal nen alten Kumpel getroffen und mich irre gefreut. Und dann sagt der, er hat nen Ausreiseantrag gestellt. Ich war wie geschockt. Man kann doch nicht alles hier aufgeben. Aber der hat erzählt, er kommt nicht auf sein Geld, weil sie nach Leistung bezahlt werden, aber oft kein Material zum Arbeiten da ist. Im Westen wäre das anders.
Und was ist mit den Demonstrationen?
Ulrike: Ich kenn’s nur aus den Medien. Hinzugehen wurde uns verboten.
Dirk: Am vorletzten Montag wurden wir extra belehrt, nicht hinzugehen.
Anja: Aber verboten war es nicht. Vorletzten Montag war das besonders schlimm. Mutter kam erst spät heim. Wie zum 1. Mai wäre es gewesen, wie eine Völkerwanderung.
Ulrike: Eigentlich finde ich ein offenes Bekennen gut. Aber man hat doch Angst, dass man Nachteile bekommt.
Wie würdet Ihr euch euer Leben in ein paar Jahren wünschen?
Christian: Dann müssten die Wünsche der Menschen mehr beachtet werden. Woher soll die Regierung die denn kennen? Die wird doch überall von bestellten Jublern empfangen.
Die Tageszeitung
Wolf Biermann über den Führungswechsel in der SED:
Nicht „Michael“ Modrow aus Dresden, sondern der blöde Krenz, der versoffene FDJ-Veteran, der Jubelperser des Politbüros, der optimistische Idiot, Egon Krenz, das ewig lachende Gebiss. Gut, das ist mein Gift. Aber wer ist Krenz wirklich? Wir wissen es nicht, wir können es nicht wissen. Das ist ja gerade die Syphilis dieses Systems: Öffentliche Angelegenheiten sind nicht öffentlich. Wie soll man da Nuancen erkennen und dem Einzelnen gerecht werden? Man wird zum Kreml-Astrologen, weil die Herrschenden sind wie die Gestirne.
Mittwoch, 20. Oktober 1989
Nachrichten
Egon Krenz geht in die Offensive: Ab sofort treffen er und andere Parteifunktionäre jeden Tag verschiedene Gruppen der Bevölkerung zum „Dialog“. Die Zeitungen berichten auf den Titelseiten.
Gleichzeitig überlegt man aber in der Partei, wie man den Protest der Bevölkerung eindämmen kann. zur geplanten Demonstration am 4. November in Berlin schreibt Kurt Hager an Egon Krenz: Nach Verständigung mit den Genossen des Ministeriums für Kultur und der Abteilung Kultur im ZK der SED sei man einhellig der Meinung, „dass eine solche Demonstration ein gefährliches Ereignis wäre und ein Anlass dafür nicht gegeben ist.“ Allerdings seien die Genossen der Meinung, „dass eine Nichtgenehmigung die Emotionen erneut ansprechen würede.“
Margot Honecker reicht ihren Rücktritt ein.
Veröffentlichungen
Markus Wolf in seinem „Tagebuch“
Eine Kamera unseres Fernsehens rückte mir auf den Leib und ein junger Reporter stellte in für unsere Verhältnisse völlig unkonventioneller Weise und ohne Vorwarnung Fragen zu den Ereignissen der letzten Tage. Da hatte ich plötzlich das Gefühl, über Nacht habe sich im Land etwas Wesentliches geändert.
Samstag, 21. Oktober 1989
Nachrichten
In Berlin wird eine Menschenkette vom Palast der Republik zum Polizeipräsidium in der Keibelstraße gebildet. Die Teilnehmer fordern die Freilassung der Zugeführten vom 7. und 8. Oktober. Politbüro-Mitglied Schabowski und Oberbürgermeister Krack stellen sich der Diskussion mit den Demonstranten.
35.000 Menschen – fast die Hälfte der gesamten Einwohner – nehmen im sächsischen Plauen an einer Demonstration teil.
Innenminister Friedrich Dickel bei einer Dienstbesprechung:
Ich kann jetzt nicht nach persönlicher Meinung gehen. Ich würde am Liebsten hingehen und diese Halunken zusammenschlagen, dass ihnen keine Jacke mehr passt. Ich war 1953 verantwortlich hier in Berlin. Mir braucht keiner zu sagen, was die weiße Brut veranlasst. Ich bin als Jung-Kommunist nach Spanien und habe gegen die Halunken, gegen dieses faschistische Kroppzeug gekämpft. Mir braucht keiner zu sagen, wie man mit dem Klassenfeind umgeht. Und dass die Panzer dann vor der Bezirksleitung und vor dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sache.
Veröffentlichungen
Berliner Zeitung
Der Sprecher des Außenministeriums teilt mit: Wir werden allen, die zurückkehren wollen, soweit nicht triftige Gründe entgegen stehen, im Rahmen des Möglichen dabei behilflich sein, in ihrer angestammten Heimat wieder Fuß zu fassen.
Sonntag, 22. Oktober 1989
Nachrichten
Die „Sechs von Leipzig“, die mit ihrem Aufruf am 9. Oktober zur Gewaltlosigkeit bei der Montags-Demonstration aufgerufen haben, treffen sich mit 500 Leipzigern im dortigen Gewandhaus. In der mehrstündigen Debatte geht es vor Allem um die Veränderung der politischen Verhältnisse und die Reform des Bildungswesens.
Erstmals wird in der sowjetischen Presse der frühere Staats- und Parteichef Honecker scharf kritisiert. Die Gewerkschafts-Zeitung „Trud“ spricht von Personenkult. Die Führung habe „eine Mauer ohne Türen und Fenster“ zur Realität der DDR errichtet.
Montag, 23. Oktober 1989
Nachrichten
Leipzig: 300.000 Menschen bei der Montagsdemonstration.
Dresden: Bischof Hempel verlangt eine öffentliche Entschuldigung für die Brutalität der Sicherheitskräfte.
Berlin: Vertreter von Bürgerinitiativen übergeben bei einer Pressekonferenz eine Dokumentation über die Polizeieinsätze von 7. und 8. Oktober.
Schwerin: Der Versuch der SED, eine Gegendemonstration am selben Ort und zur selben Zeit wie das Neue Forum abzuhalten, scheitert.
Dienstag, 24. Oktober 1989
Nachrichten
Die Volkskammer wählt Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Erstmals gibt es auch Gegenstimmen. Auf der Straße formiert sich eine Demonstration gegen die neue Alleinherrschaft.
Im Berliner Haus der Jungen Talente diskutieren Künstler, Autoren, Philosophen und der stellvertretende Kulturminister über das Thema „Die DDR wie ich sie mir erträume“. Das Jugendfernsehen „Elf 99“ überträgt die Veranstaltung live.
Veröffentlichungen
Süddeutscher Rundfunk
Nun hat Egon Krenz alle Macht in seinen Händen. Wie Erich Honecker, sein Ziehvater, bestimmt ein Mann allein das Gesicht des Partei- und Staatsapparates. Kein neues Gesicht, mit 52 Jahren fast schon ein verbrauchtes Gesicht, wenn man sich in der DDR umhört.
Gerhard Rein: Die protestantische Revolution
Egon Krenz hat alle Macht in seinen Händen, nur nicht das Volk. Das geht weiter auf die Straßen, und immer mehr trauen sich. Die Demonstrationen haben keine Anführer, keine Struktur, da sind nicht Volkstribune am Werk oder dunkle Hintermänner. Sie ereignen sich. Krenz hat, erstaunlich genug, einige der sensiblen Themen in seiner Rede heute angesprochen. Die Übergriffe der Polizei, die letzten Wahlen, die Rechtssicherheit im Lande. Damit sind freilich die Hauptfragen noch nicht berührt. Gibt es Macht neben der SED, Parteienvielfalt, demokratische Regeln in der Kultur, der Wirtschaft, der Verwaltung des Landes? Die DDR hat einen ungeheuren Nachholbedarf an spontanen politischen Äußerungen. Der wird sich so leicht nicht kanalisieren lassen.
Mittwoch, 25. Oktober 1989
Nachrichten
In Neubrandenburg versammeln sich 20.000 Menschen zum „Marsch der Hoffnung“. Der Kundgebungsplatz ist zu Beginn bereits mit Gegendemonstranten unter der Führung des SED-Bezirkssekretärs Chemnitzer besetzt. Er erklärt unter Pfiffen, Lösungen sollten nicht länger in Demonstrationen gesucht werden. Schließlich ruft er, durch die lautstarken Proteste entnervt: „Wenn ihr nicht still seid, können wir auch anders!“
Auch in Halberstadt, Jena und Greifswald finden Demonstrationen statt.
Die Grünen-Politikerin Petra Kelly sagt bei einer Veranstaltung in der Ostberliner Marienkirche zu Oppositionellen: „Diese Gewaltfreiheit wird in die Geschichte eingehen! Ich verbeuge mich vor euch. Ihr habt uns viel Kraft gegeben!“
Veröffentlichungen
Die Tageszeitung
Die SED lernt – zu langsam. Für eine Partei, die qua Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Geschichte das Erkennungsmonopol über die gesellschaftliche Entwicklung beansprucht, liefert sie in den letzten Wochen eine blamable Vorstellung. Zu offenkundig ist die Strategie der SED, die gesellschaftliche Diskussion von der Straße in die Säle und von den Sälen in die vorhandenen Gremien und Institutionen zu kanalisieren.
Die SED ist weiterhin dabei, Dynamik und Richtung der jüngsten Entwicklung zu verkennen, eine Fehlleistung, die einzig mit dem Erkenntnisinteresse, die führende Rolle am Ende doch noch zu behaupten, erklärlich ist.
Donnerstag, 26. Oktober 1989
Nachrichten
Mit dem Verweis auf angebliche Gewalttätigkeiten warnt der Berliner Polizeipräsident Friedhelm Rausch vor weiteren Demonstrationen.
In Dresden, Rostock, Frankfurt, Gera und Erfurt finden Demonstrationen der Opposition statt. In Dresden nehmen etwa 100.000 Menschen in mehreren hundert Foren an Diskussionen mit Funktionäre teil.
In Berlin findet die erste offizielle Begegnung eines SED-Funktionärs der oberen Führungsebene mit Vertretern des Neuen Forums statt: Günter Schabowski trifft mit Bärbel Bohley, Sebastian Pflugbeil und Jens Reich zusammen.
Veröffentlichungen
Neues Deutschland
Gestern klingelten sich beim Neuen Deutschland, beim Magistrat, bei Verkehrsbetrieben usw. die Telefone heiß: Berliner Bürger fragten, wann endich Schluss sein würde mit diesen schweren Störungen von Ruhe und Ordnung. Mütter beklagten, dass ihre Kinder keinen Schlaf finden, Bus- und Straßenbahn-Fahrer wollten wissen, wie sie unter den geschilderten Umständen den Verkehr aufrecht erhalten sollten. Leute, die zu Fuß oder per Auto nach Hause wollten, beschwerten sich über die Blockade der Straße. Viele Anwohner forderten, direkt mit diesen Worten, dass sie sich von unserer Volkspolizei und den anderen Sicherheitskräften vor Unruhestiftern geschützt sehen wollen.
Und wir fragen: Sind die stundenlangen Demonstrationen und das Gebrüll die Umstände, unter denen man den Dialog führen kann? Soll das die Kultur des politischen Streits sein, die so oft beschworen wird? Ist es nicht so, dass Demonstrationen, so friedlich sie von vielen, vielleicht von der Mehrheit der Teilnehmer, gedacht werden, immer die Gefahr in sich bergen, anders zu enden, als sie begonnen haben?
Die Tageszeitung
Über eine Vorführung von Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“ im Kleinen Haus Dresden und eine Diskussion im Theater
Artus läutet das Ende der Tafelrunde ein, sieht sich gescheitert, auch wenn für ihn die Aufgabe der Gralsuche einer Selbstaufgabe gleichkommt, akzeptiert er, dass sein Sohn ihr Lebenswerk, die gesamte Runde, samt Tisch ins Museum schaffen will. „Es schafft Platz, Luft zum Atmen, Vater“, sagt er. Artus darauf: „Ich habe Angst, Mordret. Du wirst viel zerstören“. Der junge Thronfolger: „Ja, Vater.“
Der Vorhang fällt, das Licht geht an, stehende Ovationen für ein Theaterstück, das immer wieder durch Applaus nach einzelnen Dialogen unterbrochen worden war und das von nichts anderem handelt, als der real existierenden Politbürokratie.
Am Ende, nach den letzten Sätzen der „Komödie“ Heins, beginnt ein Stück von der Wirklichkeit des politischen Frühlings ind der DDR. Die Schauspieler treten aus ihren Rollen heraus, das Publikum bleibt nicht mehr stummer Zuschauer: Das Theater verwandelt sich in ein Diskussionsforum, nicht über das Stück, sondern über die DDR. Zaghaft beginnt das neue Sprechen.
Die Angst vor Spitzeln und geheimen Mikrophonen beherrscht den Anfang der Diskussion genauso wie noch ungläubiges Staunen über die neue Zeit und berechtigtes Misstrauen: „Was, wenn morgen alles vorbei ist?“
Mittwoch, 27. Oktober 1989
Nachrichten
Der Staatsrat beschließt eine Amnestie für alle illegal ausgereisten DDR-Bürger. Diese gilt außerdem auch für die bei Demonstrationen zugeführten Personen.
Das Politbüro beschließt, die „Aussetzung des pass- und visafreien Reiseverkehrs“ mit der CSSR ab 1. November wieder aufzuheben und kündigt an, Ausreiseanträge künftig „großzügig und kurzfristig“ zu entscheiden, womit der Weg über die BRD-Botschaften „nicht notwendig“ sei. Trotz dieser Versprechen machen sich wieder Tausende auf den Weg nach Prag.
Der Vorsitzende der DDR-Gewerschaft, Harry Tisch, kündigt seinen Rücktritt an.
Nachdem bekannt geworden ist, dass Bärbel Bohley den ausgebürgerten Sänger Wolf Biermann zum Besuch der DDR eingeladen hat, veröffentlicht das „Neue Deutschland“ empörte Leserbriefe: „Welches Recht hat Frau Bohley, so etwas in die DDR einzuladen?“
Wolf Biermann schreibt ein neues Lied:
„Ihr müsst euch nicht, ihr verdorbenen Greise
nun plötzlich Asche streuen aufs Haupt
Bloß lernt es ertragen, wenn wir noch leise
an eurer Wende zweifeln. Es glaubt
kein Aas, wenn ihr schöne Worte drechselt
Wir geben euch eine Rat
Was zählt ist nur eure gute Tat.“
Veröffentlichungen
Der Tagesspiegel
Die Besuchsbeauftragten des Berliner Senats und der DDR-Regierung, Kunze und Müller, werden in der nächsten Woche Gespräche über die Eröffnung neuer Berliner Grenzübergänge aufnehmen. Angesichts der zu erwartenden West-Besuche von Bürgern aus der DDR und aus Ost-Berlin im Rahmen der von der neuen DDR-Führung in Aussicht gestellten Reisefreiheit reichen die bisherigen Übergänge nicht aus.
Samstag, 28. Oktober 1989
Nachrichten
Bei einer völlig überfüllten Veranstaltung in der Berliner Erlöserkirche wird über die entwürdigende Behandlung der Zugeführten vom 7. und 8. Oktober gesprochen. Erstmals wird der Begriff „Geruchskonserve“ öffentlich bekannt: Von den Verhafteten wurden mit Tüchern an intimer Stelle Geruchsproben genommen und diese in Einweckgläsern aufbewahrt. Diese Tücher sollten als Suchhilfe für Spürhunde dienen. Christa Wolf fordert auf der Veranstaltung eine unabhängige Untersuchungs-Kommission.
In fast allen Bezirksstädten finden Demonstrationen statt unter dem Motto: „Keine Reden mehr, wir wollen Taten sehen.“ In Plauen verlangen 30.000 Menschen vor dem Rathaus die Zulassung des Neuen Forums.
Die CDU veröffentlicht in ihrem Zentralorgan „Neue Zeit“ ein Grundsatz-Dokument, in dem sie sich als unabhängige Partei definiert.
Im Deutschen Theater in Berlin liest der Schauspieler Ulrich Mühe aus den Erinnerungen Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“. Das Buch durfte in der DDR nicht verlegt werden und erschien deshalb nur in der Bundesrepublik. Walter Janka, einst Leiter des Aufbau-Verlags, war 1956 unter falschen Anschuldigungen verhaftet und später zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Die ersten Besucher standen bereits morgens um sieben Uhr am Theater, um einen Platz zu bekommen. Nach der Lesung trat Janka selbst auf. Er hielt dort seine erste öffentliche Rede seit 33 Jahren:
„Was immer zuständige Organe tun oder unterlassen oder verdorben haben, ich betrachte die in dieser Lesung in diesem Haus und die im Kommunique des Filmsverbands zum Ausdruck gebrachte Solidarität als moralische Rehabilitierung, die mir hundert mal mehr wert ist als alles, was noch zuständige Organe veranlassen könnten.
Und jetzt muss ich noch an Karl Marx erinnern: Kämpft für eine „Assoziation, in der die Freiheit eines Jeden die Bedingung für die Freiheit ist“. Kämpft um bessere Lebensqualität. Kämpft, damit die Ästhetik unserer Gesellschaft wieder allen bewusst wird, Voraussetzungen schafft, um jene in den Ruhestand zu versetzen, die uns einen ideologischen Scherbenhaufen hinterlassen haben. Wenigstens Einigen muss ohne Wenn und Aber das Wort sofort und endgültig entzogen werden. Dann wird es auch in naher Zukunft möglich sein, Betonmauern und Stacheldraht – hinter denen sich doch kein sozialistischer Paradiesgarten kultivieren lässt – bedenkenlos niederzureißen, ohne dass uns die Jugend und die Zukunft davon läuft.
Sonntag, 29. Oktober 1989
Nachrichten
In Berlin und anderen Städten beginnen sogenannte Sonntagsgespräche.
Der Regierende Bürgermeister in Westberlin, Momper, wird durch Schabowski über das geplante Reisegesetz informiert. Der Senat richtet sofort eine Projektgruppe ein. Wegen der „zu erwartenden 300.000 Besucher aus der DDR“ wird eine Sperrung des Kudamms erwogen.
Montag, 30. Oktober 1989
Nachrichten
Die Demonstration der Theaterleute, die für den 4. November angemeldet worden war, wird genehmigt.
Nach Protesten der Zuschauer wird die Propagandasendung „Der Schwarze Kanal“ mit Karl Eduard von Schnitzler nach 1.518 Sendungen abgesetzt. Schnitzler darin: „Diese Sendung heute wird nach fast dreißig Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte. Der Klassenkampf geht weiter, also auch die aktuelle, streitbare Politik. Einige mögen jubeln, wenn ich diese Fernseharbeit nun auf andere Weise fortsetze. Nicht, dass ich etwas zu bereuen hätte; der Umgang mit der oft unbequemen Wahrheit ist schwer, aber er befriedigt.“
Dienstag, 31. Oktober 1989
Nachrichten
Das Innenministerium gibt bekannt, die Zulassung des Neuen Forums ernstlich zu prüfen. Inzwischen liegen mehr als 100.000 Unterschriften für die Bürgerbewegung vor. Rechtsanwalt Gregor Gysi lässt konsequente rechtliche Schritte für die Zulassung einleiten.
Das SED-Politbüro beschließt, die schockierende Wirtschaftsanalyse, die der Leiter der Staatlichen Planungs-Kommission Schürer am 27. Oktober vorgelegt hatte, den Mitgliedern des ZK auf der 10. Tagung „in ausgewogener Form“ in der Rede von Krenz zukommen zu lassen. Der am weitesten gehende Vorschlag der Analyse – die Mauer gegen Devisen zu tauschen – soll nicht erwähnt werden.
Journalisten sowie der Film- und Fernsehverband arbeiten an einem Mediengesetz.
Egon Krenz reist zu seinem ersten Auslandsbesuch als Staats- und Parteichef nach Moskau.
Erstmals werden Daten zur Schadstoffbelastung von Luft und Wasser veröffentlicht.
MfS Intern
Erich Mielke an die Leiter der Diensteinheiten
Durch Dialogangebote und andere gesellschaftliche Möglichkeiten in den Wohnorten, Arbeits- und Unterricht-Stätten soll gezielt eine Teilnahme von Personen, Arbeits- und Schulkollektiven an dieser Demonstration bzw. am Meeting in der Hauptstadt entgegengewirkt werden.
Mittwoch, 1. November 1989
Nachrichten
Der seit dem 3. Oktober unterbrochene Reiseverkehr mit der CSSR wird wieder zugelassen. Die BRD-Botschaft in Prag füllt sich darauf hin sofort erneut.
Egon Krenz trifft in Moskau mit dem sowjetischen Staatschef Michael Gorbatschow zusammen. Zitat aus dem Protokoll:
Genosse Gorbatschow empfahl, sich von den komplizierten Problemen keinen Schrecken einjagen zu lassen. Er wolle damit nicht sagen, in der Sowjetunion habe man die Perestroika schon voll gepackt. Das Pferd sei gesattelt, aber der Ritt noch nicht vollendet. Man könne immer noch abgeworfen werden. Genosse Krenz betonte, bei allen Unvollkommenheiten und Problemen in der DDR sei doch eines erreicht worden: Die Probleme in der DDR werden jetzt nicht mehr über den Westen in die DDR hineingetragen, sondern in unserem Lande erörtert.
Genosse Gorbatschow bemerkte, er sei besonders negativ davon berührt gewesen, wie man mit dem Genossen Modrow umgesprungen sei.
Genosse Krenz informierte dazu, er habe vor zwei Jahren bereits einmal faktisch den Auftrag erhalten, Genossen Modrow abzusetzen. Man fand eine taktische Lösung, die darauf hinaus lief, Genossen Modrow zu kritisieren, ihn aber nicht von seiner Funktion abzulösen. Egon Krenz informierte über die Zahlungsbilanz der DDR. Man müsse neue Kredite aufnehmen. Genosse Gorbatschow bemerkte, so prekär habe er sich die Lage nicht vorgestellt.
MfS Intern
Einsatzkonzeption zur Sicherheit einer Demonstration im Stadtzentrum Berlin
Alle Sicherungsmaßnahmen durch Kräfte des MfS sind streng konspirativ und gedeckt durchzuführen. Das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten (auch bei Verletzung festgelegter Normative) sowie die Wegnahme von Plakaten und Transparenten u.ä. sind nicht gestattet. Alle eingesetzten Kräfte sind zu besonnenem Handeln und zur äußersten Zurückhaltung zu ermahnen.
Donnerstag, 2. November 1989
Nachrichten
Die DDR-Regierung behandelt auf ihrer wöchentlichen Sitzung die „kritische Lage im Lande“ und kündigt ein Reise- und Mediengesetz an. Es folgt eine Reihe von Rücktritten: Margot Honecker (Minister für Volksbildung), Harry Tisch (FDGB-Vorsitzender), Heinrich Homann (Vorsitzender der NDPD), Gerald Götting (Vorsitzender der CDU) sowie die SED-Bezirkssekretäre von Suhl und Gera.
Es gibt wieder Demonstrationen in mehreren Städten.
Veröffentlichungen
Die Tageszeitung
In West-Berlin rechnet man noch in diesem Jahr mit 100.000 Touristen aus der DDR. Seit Berlins Regierender Bürgermeister Momper mit der Überzeugung, die DDR werde bis Weihnachten die neuen Reisegesetze verabschieden, von seinem Blitz-Besuch aus Ost-Berlin zurückgekehrt ist, betrachtet man die Mauer als symbolisches Relikt.
Die Tageszeitung
Interview mit Manfred „Ibrahim“ Böhme, Chef der neu gegründeten SDP:
Krenz wird versuchen, mit Reformbestrebungen so weit zu gehen, dass er der Opposition Gefolgschaft abziehen, zumindest aber Menschen verunsichern kann, um dann unter Umständen die Oppositions-Bewegung zum Erliegen zu bringen. Ich glaube, dass die Führung momentan nicht in der Lage ist, repressiv mit der Opposition umzugehen. Denn die SED befindet sich derzeit in einem Auflösungsprozess. Wäre die Rede von Egon Krenz vor drei Monaten gekommen, hätte er möglicherweise die Parteibasis für die SED retten können. Drei Monate hat man geschwiegen, um den Veteranen einen möglichst unbeschädigten Geburtstag überreichen zu können. Diese drei Monate sind der historische Zeitraum, in dem sich die Opposition erstmals deutlich der Bevölkerung vermitteln konnte.
Sehen Sie für die SED überhaupt noch die Chance, Verhandlungen über die weitere Entwicklung zu umgehen?
Wenn sich die Machthaber in der nächsten Zeit nicht auf konkrete Schritte festlegen lassen, müssen sie schon bald abtreten.
Abtreten auf Druck von unten?
Ja.
Den Sie organisieren werden?
Den brauchen wir gar nicht zu organisieren. Ich glaube, wenn nicht bald konkrete Schritte kommen, müssen wir den Druck von unten eher bremsen.
Mittwoch, 3. November 1989
Nachrichten
Am Vorabend der großen Demonstration in Berlin wendet sich Egon Krenz mit einer Erklärung an die Bürger der DDR. Er erklärt, dass es Reformen geben wird sowohl im politischen wie auch im Wirtschafts- und Bildungsbereich. Auch soll ein Verfassungsgericht eingesetzt sowie ein Wehrersatzdienst eingeführt werden. Gleichzeitig kündigt er den Rücktritt der Politbüro-Mitglieder Erich Mielke, Hermann Axen, Erich Mückenberger und Alfred Neumann an.
Das „Neue Deutschland“ entschuldigt sich für die Story vom 21. September, von dem mit einer Mentholzigarette betäubten und in den Westen verschleppten Mitropa-Koch. Recherchen hätten ergeben, dass die Geschichte so nicht stattgefunden habe. Auch die „Aktuelle Kamera“ (AK Zwo) des DDR-Fernsehens entschuldigt sich bei den Zuschauern, politische Eingriffe der Zensur zugelassen zu haben.
Veröffentlichungen
Berliner Zeitung
Mit Beginn des Monats sind alle fünf im vergangenen Herbst aus den Kinos genommenen sowjetischen Spielfilme wieder dem Publikum zugänglich: „Die Kommissarin“, „Thema“, „Der kalte Sommer des Jahres 53“, „Spiele für Schulkinder“ sowie „Und morgen war Krieg“. „Damit ist eine Entscheidung rückgängig gemacht worden, die seinerzeit willkürlich und ohne Abstimmung mit denen getroffen wurde, die für den Ankauf dieser Filme, ihre Synchronisation und Aufführung im Rahmen des Festivals des Sowjetischen Films verantwortlich waren“, sagte der stellvertretende Kulturminister Horst Pehnert, Leiter der Hauptverwaltung Film. Neu geprüft werde, den Film „Die Reue“ von Tengis Abuladse in der DDR zu zeigen. „Die Anweisung zum Kauf des Film wurde bereits erteilt“, sagte der Minister.
Samstag, 4. November 1989
Nachrichten
Am frühen Morgen startete die Staatssicherheit einen letzten Versuch, Einfluss auf die geplante Demonstration zu nehmen. Sie verteilte sich auf dem Alexanderplatz und begann die ersten Demonstranten anzusprechen, um sie zu überzeugen, wieder nach Hause zu gehen. Natürlich klappte das nicht und so sammelten sich den ganzen Vormittag über erst Zehn-, dann Hunderttausende auf dem Alex. Bereits um zehn Uhr gab es eine Kundgebung in der Mollstraße, vor dem Gebäude der Nachrichtenagentur ADN. Daran nahmen vor allem Kunst- und Kulturschaffende teil, sowie viele Journalisten. Als die Demonstration vom ADN-Haus am Alexanderplatz ankam, war dieser bereits mit etwa einer Million Menschen gefüllt.
Auf der Ladefäche eines LKW vor dem Haus des Reisens war ein kleines provisorisches Holzpodest aufgebaut, eine Lautsprecheranlage übertrug die Ansprachen auf den ganzen Platz. Die Organisatoren waren von der Masse der Menschen überrascht und überwältigt. Niemand hatte mit so vielen Teilnehmern gerechnet.
Dann begannen die Ansprachen, die von der Menschenmenge aufmerksam verfolgt wurden. Neben einigen Prominenten, z.B. Schriftstellern wie Heym (der viel Applaus bekam), Künstlern aus dem Theater (z.B. Heiner Müller) und SED-Funktionären wie Schabowski (der ausgepfiffen wurde) kamen auch einige Unbekannte aus der Bevölkerung zu Wort. Zum Beispiel ein Student der Humboldt-Uni oder ein junger Mann aus Ungarn. Doch in erster Linie waren es die bekannten Gesichter, die hier dem Volk seine Stimme wiedergaben, die Reformen verlangten, die sich gar für den Einmarsch – auch der NVA – 1968 in die CSSR entschuldigten. Die Demonstration, die offiziell zur Unterstützung des DDR-Artikel 27 und 28 organisiert war (freie Meinungsäußerung, Versammlungsrecht) wurde zum Rundumschlag, wie auch nicht anders zu erwarten. Journalisten des DDR-Fernsehens entschuldigten sich bei der Bevölkerung für ihre bisherige Hof-Berichterstattung, der Rektor der Filmhochschule verlangte, dass kein Wort und kein Bild aus den Filmen mehr zensiert werden dürfe.
Der Versuch den Ex-Stasi-Führers Markus Wolf, sich selbst als Oppositionellen hinzustellen, ging im Pfeifkonzert unter. Unmittelbar vor ihm hatten die Organisatoren Kurt Demmler singen lassen: „Irgendeiner ist immer dabei, von der ganz leisen Polizei…“
Als letzte Rednerin betrat die Schauspielerin Steffi Spira das Podest. Sie sprach sicher nochmal allen aus dem Herzen, als sie sagte, sie möchte, dass ihre Enkel ohne Fahnenappell und ohne Staatsbürgerkunde aufwachsen.
Die gesamte Kundgebung, die mehr als drei Stunden dauerte, wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Die Menschen auf dem Platz und sicher auch diejenigen, die sie nur im Fernsehen mitverfolgen konnten, haben gespürt, dass die Worte wahr waren, die Stefan Heym dort sprach: „Es ist, als habe einer ein Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, nach all den Jahren der Dumpfheit und des Miefs.“
Das Fernsehen der DDR brachte am Abend, im Rahmen der „Aktuellen Kamera“ mehrere Beiträge in eigener Sache. Auch hier gab es eine Entschuldigung, dass sich die Journalisten dazu her gaben, nur die Berichterstattung der Herrschenden zu übernehmen und sich der Zensur nicht zu widersetzen. Man gelobte Besserung und kündigte an, sich nun unabhängig zu organisieren.
Sonntag, 5. November 1989
Nachrichten
In der Bekenntniskirche in Berlin gründet sich eine Initiativgruppe, die die Schaffung einer Grünen Partei in der DDR vorbereiten soll.
In Leipzig wird Roland Wötzel, einer der „Sechs von Leipzig“, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung, nachdem Horst Schumann aus „gesundheitlichen Gründen“ zurückgetreten ist.
Montag, 6. November 1989
Nachrichten
Im DDR-Fernsehen startet das Nachrichten-Magazin „Klartext“. Thema der ersten Sendung: Die Bausubstanz von Leipzig. Danach sind die Telefone bis nachts besetzt, die Zuschauer gratulieren zur neuen Offenheit.
In Leipzig versuchen der Bürgermeister und der SED-Bezirkssekretär zu sprechen, werden aber mit Rufen wie „Zu spät, zu spät!“ ausgebuht.
Der Entwurf für ein neues Ausreisegesetz stößt auf Ablehnung, die Bevölkerung verlangt eine unkomplizierte Lösung. Über das Wochenende haben wieder über 30.000 Bürger das Land Richtung CSSR verlassen, um in die Bundesrepublik auszureisen.
Dienstag, 7. November 1989
Nachrichten
Der Rechtsausschuss der Volkskammer lehnt den Entwurf des Reisegesetzes als unzureichend ab.
Danach tritt der Ministerrat unter Willi Stoph geschlossen zurück. Bis zur Bildung eines neuen Kabinetts bleiben die Minister kommissarisch im Amt. Als letzte Entscheidung schaffen sie den Wehrkunde-Unterricht in der Schule ab. Das Politbüro nimmt den Rücktritt an und bereitet das am folgenden Tag stattfindende ZK-Plenum vor, das den Rücktritt des Politbüros vorsieht. Dem Material können die ZK-Mitglieder erstmals Details über die Kämpfe im Politbüro und auch über die katastophale wirtschaftliche Lage entnehmen.
In Berlin demonstrieren wieder tausende Menschen und fordern freie Wahlen. Hier bildet sich auch eine unabhängige Untersuchungs-Kommission zu den staatlichen Übergriffen am 7. und 8. Oktober.
Mittwoch, 8. November 1989
Nachrichten
Das Politbüro tritt zurück, das neue wird von der 10. ZK-Tagung gewählt, das diesmal nur aus elf statt wieder aus 21 Mitgliedern besteht. Hans Modrow wird ins Politbüro gewählt und auch dessen Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten.
Das Innenministerium gibt die Anmeldung des Neuen Forums bekannt.
Bundeskanzler Kohl erklärt vor dem Bundestag, dass wirtschaftliche Hilfe für die DDR erst nach Zulassung der Opposition, nach freien Wahlen und Verzicht der SED auf den Führungsanspruch möglich sei.
Veröffentlichungen
Fernsehen der DDR
Christa Wolf:
Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist: Jahrzehnte alte Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land. Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hier bleiben wollen, Vertrauen.
Donnerstag, 9. November 1989
Nachrichten
Das Zentralkomitee setzt seine Plenartagung fort. Doch von den neuen Führungskadern werden schon wieder vier abgewählt oder treten zurück.
Die Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger verlangt am Vormittag an einem Berliner Grenzübergang ihre Einreise aus dem Exil. Sie wird abgewiesen, weigert sich aber zurück zu gehen. Westdeutsche Besucher unterstützen sie, bis die Grenzpolizisten nachgeben.
Zum ersten Mal führen DDR-Medien Interviews mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley (siehe unten).
Auf der abendlich stattfindenden und live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz nach dem ZK-Plenum teilt der für Information zuständige Günter Schabowski eher beiläufig mit, dass der Ministerrat der DDR eine neue Reiseregelung beschlossen hat: Kurzfristige Visa-Erteilung ohne Voraussetzungen. Die ARD-Tagesschau platziert die Meldung an erster Stelle mit der Schlagzeile: „DDR öffnet Grenze“.
Massen von Menschen strömen sofort zu den Übergängen, um zu sehen, ob es die versprochene Reisefreiheit tatsächlich gibt. Niemand weiß, ob es sich um ein Gerücht, einen Versprecher oder um eine gültige Entscheidung handelt. Angesichts des Andrangs verlieren die völlig überraschten Grenzler am Übergang Bornholmer Straße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg die Kontrolle und die Übersicht. Um 22.30 Uhr öffnen Obersleutnant Harald Jäger und Major Manfred Sens als erste das Tor. Die anderen Grenzübergänge folgen bald danach. Damit ist die Mauer gefallen, das letzte Bollwerk der SED-Diktatur zerstört.
Veröffentlichungen
Der Morgen (Zeitung der LDPD)
Interview mit Bärbel Bohley:
Viele haben unser Land verlassen, Sie sind hier geblieben…
Bei mir ist da eine Portion Trotz dabei. Eigentlich gehört das Land uns und nicht denen, die es regieren. Ich habe niemals einsehen können, weshalb ich gehen soll. Vielleicht müssten erst einmal andere gehen? Man kann ein Land nicht aufgeben, nur weil einem die Regierung nicht gefällt. Mir ist die Heimat hier sehr wichtig. Leute, die diese Schnitte mit sich machen, erkennen im Grunde genommen oft nicht, was das für Schnitte sind. Denn die wenigsten sind zu Vagabunden geboren.
Wie gefährlich war im Nachhinein betrachtet öffentliches Andersdenken?
Es gab in diesem Land nichts Gefährlicheres, als anders zu denken. Und das war schon vor mir so. Leute wurden dafür bestraft, weil sie selbstständig dachten. Seit vierzig Jahren vertrieb man damit Menschen. Das hat mit Arroganz der Macht zu tun, denn es wurde nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg bestimmt. Wer den Weg, selbst wenn er zum gleichen Ziel führen sollte, anders gedacht hatte, wurde er schon kriminalisiert.